23 Grad (Gaijin 3.Teil)
Nahezu
heroisch zwängte Yukio seinen Kopf durch das Eingangsportal der Hotelanlage. Vorbei an den beiden
Feigenbäumen, welche allein nur zu dem Zweck gepflanzt wurden, um jedem Neuankömmling mit ihren ausladenden Kronen Schatten zu spenden. Laut hupend fuhr eine Hochzeitsgesellschaft durch die Hauptverkehrsstraße. Verziert mit einem debilen Grinsen hielt eine Beifahrerin ihr Smartphone durch das geöffnete Wagenfenster und lud einige Quanten Wirklichkeit herunter. Yukio brauchte ein paar Monate um zu verstehen, dass der Europäer die Autohupe grundsätzlich nur zu besonderen Gelegenheiten oder als Hormonschleuder einsetzte.
Sein Kopf schien an diesem Morgen durch nahezu keine Tür zu passen. Kein Wunder nach dieser Nacht.
Eine ruckartige Drehung der Schneekönigin führte zu einem Riss im Kontinuum der Annäherung. Es schien wohl ein
Talent der Doitsugo zu sein, beim Trinken den Kopf weit nach hinten zu werfen. Und so verlor sich der Körper der Schneekönigin auf dem knappen Barhocker in eine Pendelbewegung, die in Sekundenbruchteilen zu einem Sturz führen musste. Yukio sprang instinktiv auf. Er verlor sich für einen Moment in diesem
Wohlgeruch, den die sichtlich erhitzte Haut der Schneekönigin ausströmte. Dieselbe leichte Rötung der Haut wie bei seiner Nadeshiko in den Momenten der Erregung. Leichte rötliche Flecken wie die vollroten Blüten
blätter einer tsubaki, die sich von den verschneiten Hügeln der Schultern in der Ebene des zarten Rückens Akikos verloren.
Ein Ruck durchfuhr den Körper der Schneekönigin. Eine Durchbrechung des Rapports. Wie Tränen rannen die Tropfen des Nikka seinen Leib herunter. Der Blick der Schneekönigin schien indes nicht den unter dem weißen Hemd deutlich hervortretenden Schriftzug des Ramones-T-Shirts als vielmehr die darunter liegende Brustpartie Yukios zu mustern.
Ein Röntgenblick wie seinerzeit aus den eiskalten Augen Ichikos, als diese mit Femenaktivistinnen die Verteidigungsrede zu seiner Doktorarbeit über Ōsugi Sakae´s Freiheitsbegriff stürmte. Diese Überraschung, als er sein Hemd vom Leib riss und sie aufforderte, mit einem großen Pinsel das Wort Femen auf seine Brust zu malen. Sein Doktorvater schien sich seinerzeit mehr darüber aufzuregen als über seine weniger gelungen Ausführungen zur schintoistischen Sittenlehre.
Wissensdurstig saugte sie in der Nacht der Untersuchungshaft seine Erzählungen über Adornos Begegnung mit der Nacktheit auf und danach seinen Unterleib aus.
Eine Ableitung des Zufalls? Der Blick der Schneekönigin erschien ihm wie eine Verdächtigung.
Sie schien ab dem dritten Cocktail zunehmend Gefallen daran zu finden, den Boden der Cocktailbar mit Servietten zu bestreuen, welche Yukios durchnässtes Hemd trocknen sollten.
Fern dieser Entrücktheit, die seinerzeit das Licht auf dem schneeweißen Körper Akikos am
Flussufer des Arima Flusses auslöste. Yukio wurde erst anhand der Zeichnung in den Arm- und Beinbeugen und an den Innenseiten der Schenkel klar, dass die Schnitte an Akikos Körper nicht von Naburos Ausschweifungen stammen konnten.
Es war wohl allein der Saufkumpanenschaft zwischen Yukio und Naburo zuzuschreiben, dass Yukio zum Shugo tenshi Akikos aufstieg. Immer dann als Schutzengel zur Stelle, wenn sich Naburo über das noch kindlich anmutende Wesen der gerade 18-jährigen lustig machte und sie demonstrativ durch Nichtachtung demütigte, sie zuweilen ohne Vorwarnung aus dem Wagen warf oder sie mit zwielichtigen Kerlen an einem Tisch sich selbst überließ.
Akiko war schnell die Grobheiten Naburos satt. Naburo war ein Magier, wenn es darum ging, sich schwierigen Situationen zu entziehen. Und so war es für ihn ein Leichtes, Yukio nicht nur seine verflossene burikko unterzujubeln, sondern ihn dann auch noch zum Anheuern auf einem portugiesischen Seelenverkäufer zu überreden, der mit einen Ladung Holz unweit der Spelunken in Chinatown auf Reede lag.
Bereits nach drei Tagen Ehe tat sich Akiko mit ihrer Rolle als gonsai schwer. Zu sehr überschattete die Präsenz Ichikos die Flitterwochen. Ichiko schien die Ehe zwischen Akiko und Yukio vordergründig mit einem spöttischen Lächeln abzutun, ließ Yukio indes durch regelmäßige Statusmeldungen wissen, dass sie zum Zeitpunkt seiner Flitterwochen an einem feministischen Kongress in Osaka teilnimmt. So
tolerant, wie die beiden das in ihrem erörterten Lebensentwurf proklamierten, war dies bestimmt nicht. Und wo sich die Freiheiten überholen, breitet sich Teilnahmslosigkeit aus. Das Narita Rikon dann eher eine Formsache. Die Scheidung von Akiko nach den Flitterwochen war weniger ein Problem als die Rückzahlung der Mitgift, welche unter den Ausschweifungen Akikos, Naburos und Yukios wie Sand durch die Finger rann.
Während Yukio versuchte, sich der Faszination der sich zunehmend rötenden Haut der Schneekönigin zu entziehen, beeindruckte die Schneekönigin Vadim mit einer Trinkfestigkeit, wie dieser es ansonsten nur aus seiner südukrainischen Heimat kannte. Dem Dreigestirn war klar, dass der nahtlose Übergang zum Portwein mit der Gewissheit eines leidvollen Vormittags am Folgetag erkauft werden würde.
Die Schneekönigin war beim nächtlichen Aufbruch zu sehr mit sich beschäftigt als zu bemerken, das Yukio selbst kaum noch gerade stehen konnte. Die vom Atlantik einfließende Nachtluft kühlte den Verstand der beiden. Ein klarer Moment der Schneekönigin, als sie sein Angebot, ob er sie zum Bungalow eskortieren solle, vehement zurückwies. Scheinbar mehr der Etikette geschuldet bedeutete sie ihm, sie habe Familie.
Er nickte wortlos. Aber sein suchender Blick verriet ihr die unausgesprochene Frage, wo denn Mann und Kinder abgeblieben sind. Sein Blick folgte ihr noch bis zur Eingangstür des Bungalows.
Der Bewegungssensor am Hauseingang flackerte auf und erlosch noch ein paar Minuten, bevor dieser Abend und Yukio vom Dunkel der Nacht verschluckt wurden.
Ōsugi Sakae (jap. 大杉 栄; * tatsächlich am 17. Januar 1885, nach amtlichen Unterlagen am 1. Mai in Marugame, Kagawa; † 16. September1923 in Tokio) war der bedeutendste sozialistische, später anarcho-syndikalistische Aktivist, Publizist und Theoretiker der Taishō-Zeit. Er vertrat eine stark anti-autoritäre Ideologie, die die individuelle Freiheit als höchstes Gut sah. Er wurde am 16. September 1923 in Tokio von Militärpolizisten zusammen mit seiner zweiten Frau Itō Noe und einem Neffen ermordet. Die Bluttat ist als Amakasu-Zwischenfall bekannt.
Von Dezember 1915 bis November 1916 praktizierte Ōsugi Sakae seine Art von „freier Liebe“, dessen Ideen dazu, die auf gegenseitiger Nicht-Interferenz und ökonomischer Unabhängigkeit aller Beteiligten basierten, er bereits in Artikeln 1906 Dōbutsu no ren'ai und 1913 Shuchi to teisō dargelegt hatte, als er neben seiner Frau noch offene Affären mit der feministischen Journalistin Kamichika Ichiko – Mitglied der radikalen Seitō-sha – und gleichzeitig mit Itō Noe (* 1895), zu dieser Zeit Chefredakteurin der feministischen Seitō, unterhielt. Die Dreiecksbeziehung endete, als Kamichika ihm am 8. November 1916 ein Kurzschwert in den Hals rammte und die Luftröhre traf. Sie wurde im März 1917 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.
(Quelle: Wikipedia)