Meine Freundin Leni hatte mich zu einem besonderen Event am heutigen Abend überredet. Eine mir völlig unbekannte Band würde im Club „El Aficionado“ in der Innenstadt zum Tango Argentino aufspielen. Eigentlich hatte ich keine Lust darauf, denn meine Begabung in Sachen des anmutigen Bewegens in vorgegebenen Schrittfolgen ließ doch sehr zu wünschen übrig (meine Tanzstundenzeit war der blanke Horror gewesen) und ich befürchtete, den ganzen Abend nur dumm herumzusitzen. Aber Leni konnte ziemlich penetrant sein und, wenn sie dann noch ihren Dackelblick aufsetzte, war ich machtlos.
Ich hatte mich also überreden lassen und zum Glück noch etwas Passables in meinem Kleiderschrank gefunden. Für unsere Kleinstadt Don Juans würde es schon reichen. Punkt 21:00 Uhr fuhren Leni und ich mit der Taxe vor dem Club vor, in dem fast ausschließlich Hedonisten verkehrten. So hatte es mir Leni mit einem vielsagenden Blick erklärt. Mein Herz klopfte wie verrückt und ein wildes Kribbeln erfasste meinen Körper. Ich hatte schon einiges von diesem Ort – geraunt hinter vorgehaltener Hand – gehört.
Eine schier endlose Warteschlange stand vor dem Eingang. Umsonst herausgeputzt, da würden wir nie hereinkommen und meine Laune sank auf den absoluten Nullpunkt. Doch Leni packte meine Hand und marschierte mit mir im Schlepptau zielstrebig und unbeeindruckt zum Eingang, vorbei an den laut meuternden Menschenmassen.
Ich befürchtete gelyncht zu werden und lief, so schnell es in meinen hohen Pumps und dem figurbetonten Kleid mit dem fast unanständig langen Schlitz ging, hinter Leni her. Am liebsten hätte ich mich unter den vorwurfsvollen Blicken in Luft aufgelöst. Sie nannte dem Türsteher ihren Namen, der ihn auf einer VIP-Liste abhakte und schon waren wir drin und mit zwei Gläsern Champagner in der Hand versorgt. Ich konnte nur staunen.
Neugierig sah ich mich in dem mittelalterlichen Gewölbekeller um, der ein hypermodernes Bardesign mit alten südamerikanischen Akzenten strukturell perfekt und harmonisch kombinierte. Dazu sanftes Licht, der Wachsgeruch der brennenden Kerzen auf edel betagten Holztischen, alte schwarz-weiß-Aufnahmen von tangotanzenden Paaren. Sehr schön anzusehen, auch die elegant gekleideten Menschen um mich herum – soweit ich sehen konnte - nicht nur Paare, sondern auch Einzelpersonen beiderlei Geschlechts.
Vielleicht würde ich doch nicht den ganzen Abend an diesem Stehtisch verbringen, den Leni ergattert hatte.
Die Band nahm gerade ihre Plätze auf der kleinen Holzbühne mit den roten Samtvorhängen ein. Davor ein Tanzparkett, die Tische und Stühle waren so weit als möglich an die Wände gerückt worden, um genügend Platz für die Tanzenden zu schaffen. Noch lief die Musik aus der Retorte, aber viele Paare standen schon ungeduldig bereit, sich bei den ersten Klängen in den erotischen Reigen zu stürzen. Ich besah mir die Frauen und Männer näher. Die Herren waren zumeist in schwarz oder im Smoking gekleidet, die Damen trugen überwiegend sexy Outfits, körperbetonte geschlitzte Röcke oder Kleider in Rot oder Schwarz, hohe Absätze, edel bestrumpfte Beine, die Bandbreite der Frisuren reichte von knabenhaft streng und gelackt bis weiblich wallend.
Eine prickelnde Atmosphäre pulsierte durch den Raum. Um mit den „Ärzten“ zu sprechen
„Hier konnte man Hormone bei der Arbeit sehen!“ und ich spürte große Vorfreude auf den Abend.
Die Musik spielte auf und sofort veränderte sich die Atmosphäre. Die klagenden Klänge der Bandoneons nahmen mich sofort gefangen. Gebannt richtete sich mein Blick auf die Tanzenden in ihren anmutigen Schrittfolgen. Ihr erotisch frivoles Spiel mit Blicken und Gesten faszinierte mich. Nicht umsonst galt Tango als vertikaler Sex. Scheinbar mühelos schwebten sie über das Parkett, ihre Bewegungen in perfektem Rhythmus zum melancholischen Charakter der Musik. Tiefe Sehnsucht mich in diese Klänge fallen zu lassen, breitete sich in mir aus.
Die Herren führten ihre Damen in Strenge und Harmonie, schritten forsch vorwärts, bestimmten die Figuren und übernahmen die Führung. Die Damen folgten ihnen ohne Widerspruch, fügten sich in ihren dekorativen Part, wiegten sich in den Armen ihrer Partner mit überwiegend geschlossenen Augen. Hier zeigte sich archaisches Verhalten pur. Die Männer als Macher, die Frauen scheinbar unterwürfig, aber mit Stolz erhobenen Kopf.
In mir regte sich außer Faszination mittlerweile noch viel mehr und ich rutschte ein wenig unruhig auf dem hohen Barhocker herum. Leni riss mich aus meinen Gedanken und flüsterte in mein Ohr, dass sie kurz einige Bekannte begrüßen müsste und so blieb ich allein zurück und fühlte mich gottverlassen einsam in der Fülle der Anwesenden.
Ich bemerkte den Blick, bevor ich den Mann dahinter sah. Er stand in der halbdunklen Nische gegenüber und musterte mich mit einem wohlwollenden Blick. Entgegen meiner sonstigen „Graue-Maus-Art“ hielt ich den Augenkontakt und kurz darauf löste er sich aus dem Schatten der Mauer und kam auf mich zu. Mein Herz begann zu klopfen. Er trug schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd, in seinen blankgeputzten Schuhen spiegelte sich das Licht des Bühnenscheinwerfers. Dunkles, leicht gelocktes Haar, klare Linien, blaue Augen, die mich verschmitzt musterten. Vor mir stehend, verbeugte er sich galant und fragte:
„Darf ich Sie um einen Tanz bitten?“ Mein Herz rutschte in tiefere Regionen.
„Danke schön, aber ich kann keinen Tango tanzen.“ Antwortete ich verlegen und verfluchte mein Unvermögen. Was für ein Mann! Das war`s jetzt mit dem netten Abend!
„Sie brauchen keine Angst zu haben, schöne Frau, das ist Tango Argentino. Da gibt es keine festgelegte Choreografie. Man spürt in den Rhythmus und lässt sich mitreißen. Außerdem liegen die Schritte und Figuren in meiner Verantwortung, ich führe und Sie brauchen mir nur zu folgen.“
Antwortete er so als hätte er mit meiner Weigerung gerechnet und ergriff meine Hand. Seine Begeisterung sowie sein bestimmender Händedruck tangierten mich und raubten mir fast den Atem.
„Es würde mich ja wirklich sehr reizen, aber das sieht alles so kompliziert aus und ich habe einfach Angst, mich schrecklich zu blamieren!“ Erwiderte ich mit mehr „Ja“ als „Nein“ auf meinen Lippen und setzte einen zerknirschten Gesichtsausdruck auf.
Er lächelte nonchalant und meinte mit einem keinen Widerspruch duldenden Ton:
„Kommen Sie, lassen Sie es uns versuchen, wir gehen auch ganz hinten in die Ecke dort drüben“, und schon zog er mich in die Richtung. Ich ließ es geschehen, es gefiel mir, dass er sich nicht abschrecken ließ und ja – dieser Mann hatte etwas, was mich magisch anzog. An unserem Platz angekommen, positionierte er mich in Tanzhaltung und erklärte mir:
„Wir beginnen mit einfachen Gehen, dem „Paso Basico“ acht Schritte, auf jeden Taktschlag ein Schritt! Ich tanze vor und Sie zurück, ganz einfach! “
Er begann und prompt stand ich auf seinen Füßen – Gott, wie peinlich! Er quittierte meine, mit hochrotem Kopf, vorgetragene Entschuldigung mit einem süffisanten Grinsen.
„Es geht leichter, wenn Sie Ihre Gedanken ausblenden und die Augen schließen, fühlen Sie die Musik, spüren Sie die erregenden Schwingungen, die Melancholie der Klänge, die Sie vollständig ausfüllt.“ Flüsterte er in mein Ohr und es elektrisierte mich. „Wie ist Ihr Name?“ fragte er mich.
„Claire“, hauchte ich und spürte sie bereits, die Magie dieses Tanzes, die mich einfing. Die Bewegung und diese Intimität zwischen uns. Mein Puls raste, mein Blut pulsierte, mein Herz klopfte wie wild. Mir war heiß, trotz meiner eiskalten Finger und ich taumelte in unendlichem Glückgefühl.
„Schließen Sie die Augen, Claire, und vertrauen Sie mir. Ich weiß, was ich tue!“
Er legte meine Arme auf meinen Rücken und umschloss meine Handgelenke mit seiner Hand, presste meinen Körper eng an seinen. Sein Rhythmus ging auf mich über, durchdrang meinen Körper und meine Bewegungen schlossen sich den seinen an. Wir schwebten in einer nie für möglich gehaltenen Konvergenz über das Parkett und ich verlor jegliches Zeitgefühl. Gelegentlich verhaspelten sich noch meine Füße, aber es störte nicht. Es war einfach wunderbar, ihm die Kontrolle zu überlassen.
Ich fühlte mich in seinem Griff und mit den geschlossenen Augen so frei wie nie zuvor. Die Musik verhallte und wir kamen zum Stehen. Blinzelnd und auch bedauernd öffnete ich meine Augen und wünschte mir, er würde mich nicht loslassen. Er schien es zu bemerken, denn er hielt mich weiter fest in seinem Griff und strahlte, während er in mein Ohr flüsterte:
„Mein Name ist Matias, die spanische Version- und Claire, für jeden weiteren Fußtreter gibt es später einen Schlag auf Ihren hübschen Po!“
Er lächelte mich herausfordernd an und ich fühlte, wie ich dahinschmolz.