heterotopie
Sie werden lachen, aber hier spricht ihr Kapitän.Na, sie lachen natürlich nicht, aber verzeihen sie mir diese kleine Floskel. Man sagt das ja so dahin und meint es meist gar nicht so. Ist doch tragisch oder? Man dreht sich morgens um, schaut die Frau oder den Mann an und sagt „Guten Morgen“ und hat doch tatsächlich schon das erste Mal gelogen. Einfach so, mit dem überzeugenden Augenaufschlag eines Schauspieldebütanten.
Apropos „Guten Morgen“, ich habe heute Morgen schmunzelnd auf den Berg von rührenden und zum Teil sehr niedlichen Rückreiseanträgen geschaut und das ist auch der Grund, weshalb ich mich doch noch mal persönlich an sie wende, wenn auch nur über Bordlautsprecher. Normalerweise geht hier alles recht stumm über die Planken, die die Welt nicht mehr bedeuten.
Also was ich ihnen sagen will ist, dass es leider völlig unmöglich ist, umzukehren. Weder für einige, noch für alle. Das hier ist schließlich ihre Reise. Glauben sie mir, es wird gewiss für einige, ach was sage ich, für sie alle, nicht unbedingt die schönste Reise werden, aber sicher wird es doch die längste vor ihrem Tod. Oh Verzeihung, jetzt habe ich es schon verraten, dabei wollte ich sie doch überraschen mit ihrem plötzlichen Ableben.
Na, jedenfalls kann ich den Anträgen nicht entsprechen, was sie sicher verstehen werden. Unsere Fahrt hat ja einen Sinn und den wollen wir doch nicht durch infantile Anfälle von Heimweh unterbrechen, nicht wahr?
Ich kann ihnen auch versichern, dass sie bei ihrer Abreise ohnehin nichts zurückgelassen haben, dessentwegen sich eine Umkehr lohnen würde. Will sagen, sie haben nichts mehr. Gut, ihr Haus haben sie nicht selber angezündet, da mussten wir schon nachhelfen, aber ihre Lieben sind auch hier. Ein paar Decks weiter unten.
Nana, nicht hektisch werden. Denken sie doch an ihren Zustand. Sie mögen zwar für die Außenwelt alle verblichen sein, aber sie haben immerhin noch ein Gewicht. Und ich mag zwar Schlagsahne, aber keine Schlagseite, höhö. Verzeihen sie mir diesen kleinen Kalauer. Ihr Käpt’n ist noch n’ büschn duselig vom Rum. Denn immer wenn neue Passagiere kommen, bin ich total aufgeregt und völlig aus dem Häuschen. Da brauche ich ein paar Schluck Seemansblut.
Wissen sie, das Beste sind immer die entgeisterten Gesichter der Passagiere, die verständlicherweise an einen bösen Traum glauben, wenn der Zahlmeister im Kostüm des Sensenmannes ihnen ihre Kabine zuweist.
Nun, sie haben es sicher selber längst bemerkt, der Sensenmann ist echt und natürlich unberührbar und ihr Traum ist gar keiner. Aber nehmen sie es ruhig sportlich. Hier wird wenigstens nicht alb geträumt und sie müssen sich über gar nichts mehr Sorgen machen. Jedenfalls nicht darüber ob es noch schlimmer kommen kann. Weil, DAS kann ich ihnen versprechen.
Wissen sie, es war kein schönes Stück Arbeit, sie ausfindig zu machen. Nicht dass es zu wenige von ihnen gäbe. Aber täglich die Zeitungen zu durchblättern und vor allem dort die Wahrheit nicht zu finden, das Doofenradio abzuhören, vom Doofenfernsehn ganz zu schweigen, sich durch Gerichtsakten, Ermittlungsprotokolle und Freisprüche zu lesen, die Frauenhäuser abzuklappern, die Kinderheime und die Traumastationen der Krankenhäuser, dass ist nie sehr angenehm. Da will ich gar nicht über so einfache, schwarz und offen herumliegende Barbareien reden. Flüchtlingslager, Massengräber, Pharmakonzerne, Bürgerkriegsmacher. Und nicht genug damit. Seit neustem müssen wir auch noch Börsenkurse und Bankbilanzen überprüfen und feststellen, wer wie zu seinen Milliarden gekommen ist und wer wie wem welche wegnahm. Da heißt es oft standhaft bleiben und die Leute nicht gleich vor dem offiziellen Urteil erschießen. Ich meine, sie müssen doch auch mal uns verstehen.
Du liebe Güte, ich wäre ja zum Käpten’s Diner noch nicht fertig mit meiner Aufzählung und da blickt doch auch keine Sau mehr vom Trog auf. Nein, es sind es die kleinen, hingehauchten Flüche und Verwünschungen gewesen. Das Nichthörbare macht uns hellhörig. Das bringt uns immer auf ihre Spur. Da kennen wir uns aus.
Klar, seit dem Worte wie „Frischmüll“, „Nullwachstum“ und „Enderzeuger“ in den Sprachschatz aufgenommen wurden, liest sich Mord vielleicht nicht mehr wie Tod, und Dummheit nicht wie ein Defizit und überhaupt hört sich alles immer ganz anders an, als es in Wirklichkeit ist, irgendwie niedlicher, irgendwie immer am harten Kern vorbei, irgendwie „semitoll“.
Aber sein wir doch mal ehrlich, dem Menschen dürstet nach Wahrheit. Nach Klarheit.
Und dem fühlen wir uns verpflichtet. Noch bevor man in den großen Vertuschkasten greifen konnte, haben wir ihre Sache übernommen. Das war doch auch in ihrem Sinne. Denken sie nur mal an ihre Lieben, die sie schon allein damit in die Bredouille brachten, dass sie sich klammheimlich ihr Ableben gewünscht hatten. Ich meine, dass wünscht man doch keinem, oder? Das auch sie mit an Bord sind hat nichts mit Bestrafung, sondern mit der Vererbungslehre zu tun. Wir müssen da leider sehr konsequent sein und ich bitte um ihr Verständnis. Aber in ihrer Sprache heißt das Kollateralschaden und dürfte sie eigentlich nicht sonderlich aufregen.
Wissen sie, ich will sie gar nicht noch mal aburteilen. Ich mache hier nur meinen Job. Aber was mussten sie sich auch untreu durchs Leben ficken, immer um Schamhaaresbreite an der Legalität vorbei. Das allein wäre noch verzeihlich denn ER hat ja irgendwann einsehen müssen, dass da etwas im Bauplan nicht stimmte. Also SEIN Fehler.
Aber das sie irgendwann IHN ficken wollten, feist und fett und mit einem breiten Investmentgrinsen im Gesicht, dass hat ihm Husten verursacht, ein Würgen geradezu.
Da sind sie eindeutig übers Ziel hinausgeschossen, meine Lieben und ich kann ihnen versichern, dass ER sehr enttäuscht war. Sehr enttäuscht.
Einen Moment bitte, ich bekomme gerade zwei Zettel gereicht. Aha, einem gewissen Möllemann geht es nicht schnell genug. Nun, ich würde vorschlagen, dass sie für diesen Fall ihre Lieben im Maschinenraum vorbei bringen. Nein, nicht zum rudern. Auch wir stehen unter Dampf, wenn sie verstehen, was ich meine.
Und auf dem zweiten Zettel steht, dass ein Herr Haider nach gelungenem Überholmanöver eilig Anschluss an unserer geselliges Beisammensein sucht. Hierfür machen wir doch gern einmal einen Stopp und nehmen ihn auf. Respekt, Herr Haider, sie wären eigentlich erst nächstes Jahr dran gewesen. Das nenne ich Konsequenz bis zum letzten Atemzug. Und bezahlt auch noch die eigene Anreise.
So, wo waren wir stehen geblieben? Am Kap der guten Hoffnung. Na, das war ein Scherz wie sie schon völlig zu recht vermuten. Da fahren wir höchstens vorbei und ich kann ihnen versichern, dass bisher noch alle Passagiere an Deck rannten und verzweifelt um Vergebung gewunken haben. Ganze Arme haben sie sich abgewinkt. Wie drollig das dann immer aussieht, wenn die meisten von ihnen an Deck herum hüpfen werden und die Hoffnung eines Nackten am Nordpol auf die globale Erwärmung entwickeln.
Also ich will es nicht zu spannend machen, einige von ihnen haben mich das ja schon gefragt und ich kann ihnen nun sagen: dass Ziel unserer Reise sind die Roaring Fortie’s.
Genau, jene Ecke der irdischen Welt, die auch unbescholtene Seeleute fürchten. Also wie geschaffen für uns.
Was danach sein wird, muss sie nicht kümmern, weil es mit der gleichen Unvermeidlichkeit daher kommt, wie sie dereinst ihr Leben über Unschuldige stülpten.
Ich würde sagen, es wird sich auch nicht mehr wie SEIN anfühlen, sondern es wird sich ein komplizierter Entmaterialisierungsprozess einstellen. Wir beginnen meist mit den Beinen, daher sollten sie auf mein Kommando schleunigst einen Sitzplatz einnehmen.
ER musste sehr lange üben dafür, einschließlich aller menschlichen, oder in diesem Fall, göttlichen Bedenken. Schließlich sind SIE auch SEINE Kinder. Wenn sie wüssten, wie er darunter litt.
Na, jedenfalls darf ihnen aber versichern, dass die Versuchsphasen alle gut verlaufen sind und bis auf ein paar Knochenreste nichts mehr zu finden sein wird von ihnen. Aber auch daran üben wir noch.
So, meine lieben, die Kessel sind gut gefüllt und wir steuern nun mit voller Fahrt unserem Ziel entgegen.
Machen sie es sich bequem, schnallen sie sich ab und fangen sie das Rauchen an. Bestellen sie sich was, meinetwegen auch die Naddel im Heuhaufen. Und wenn sie sie haben, dann ziehen sie sie noch mal richtig durch, die kann das ab. Die ist dafür gemacht. Genau wie die ganze gepiercte Silikonmasse von pubertären Bettnässern jeglichen Alters aus dem C- Deck .
Wissen sie, ich weiß manchmal gar nicht, wie wir einige Passagiere hier eigentlich noch tot bekommen sollen. Die checken ja quasi schon im Endzustand ein.
Diese Dauerverirrten allerdings kehren zurück und sie sollten mal sehen, wie die stolz die wieder von Bord gehen, wenn sie die Rundreise hinter sich gebracht haben. Dagegen wird Stalingrad als Endlosschleife ein Frühlingsspaziergang gewesen sein. Das werden Kriegsheimkehrer, meine Lieben. Und mit denen lässt sich immer was anfangen. Hätten sie ihre Grosseltern ruhig mal was gefragt.
Neuere Thesen sagen zwar, dass wir alle nicht lange genug leben, um je vernünftig zu werden, aber da halten wir doch mal dagegen. Da wagen wir mal was. Also, sie sehen, der Job kann auch Spaß machen.
So, ich muss nun aber auf die Brücke zurück, will aber noch schnell einige Fragen beantworten, die doch immer wieder gern von unseren Passagieren gestellt werden. Nur damit dann alles klar wäre. Also:
Es gibt Liebe vor dem Tod.
Die mobilen Brathamsterstände auf Deck SIND eine Illusion.
Es gibt auch Tod vor dem Leben, umgekehrt ist es weniger wahrscheinlich, aber versuchbar. Becker gewann 85,86 und 89 das Wimbledon. Nicht umgekehrt.
Fitnessgeräte bitte nur gegen Gebühr.
Die Niagarafälle sind längst gelöst.
Experte ist, wer eine Frage richtig beantwortet, diese nur nie gestellt bekommt.
Stuntfestigkeit ist nicht die hanseatische Variante von Batman.
Die westfälische Variante war, ist und bleibt Jürgen W. Möllemann.
Die Preise fürs Lebenswerk gibt’s im Unterdeck.
Marcel Heidenreich- Ranicki ist auch deswegen nicht dabei. Clever der Mann, Respekt.
Walwerbespots hätten sie in der Tat gerettet.
Zum Kapitänsempfang gibt es Ursuppe und Quarksteilchen.
Sie sind nicht aus Mangel an Demut hier, denn der größte Übersetzungsfehler der Menschheit war „Hochmut kommt vor dem Fall“.
Sie, meine Lieben sind hier wegen fehlenden Mutes. Dem zum Scheitern.