Die Wahrheit
Ines lehnte sich entspannt zurück und betrachtete die Gesichter ihrer Gegenüber. Von purem Entsetzen über gespielte Teilnahmslosigkeit bis zu dezenter Neugier konnte sie die gesamte Palette an Emotionen ablesen. Es arbeitete in ihnen, in jedem von ihnen anders. Sie nahm das Glas, erhob es, als wolle sie einen Trinkspruch aussprechen, und lehrte es in einem Zug. Immer noch herrschte nach ihren Worten eine gespenstische Stille im Raum. Als erste fand eine ältere Dame die Sprache wieder.
"Wie kannst Du so was nur....", zischte sie fast unhörbar, wie eine Schlange, erhob sich und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ines lächelte nur still.
"Was hast Du Dir dabei gedacht?", eruptiv, wie ein Vulkan, schleuderte eine zweite Frau die Sätze in den Raum.
"Habe ich so versagt?", sie warf die Worte wie Giftpfeile auf Ines, ehe sie aufstand und in Richtung Ausgang ging. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, richtete sich zur vollen Größe von 158 cm auf und blickte Ines triumphierend an.
"Für mich bist Du gestorben!", waren ihre letzten Worte, böse und voller Hass heraus gestoßen.
Stille herrschte im Raum, kaum waren die Atemzüge der Anwesenden zu hören.
Ines blickte voll innerer Gelassenheit in die Gesichter der Anderen. Mit sich im Reinen, nach einer langen, schmerzhaften und manchmal irritierenden Reise zu den Wurzeln ihres eigenen Ich-s, genoss sie diesen Nachmittag, an dem sie den letzten Schritt aus dieser, ihrer Lebenslüge ging. Hier und heute würde sie diesen Kokon, diese lähmende Hülle abstreifen, die zwischen ihrer Seele, ihren wirklichen Bedürfnissen und dieser Farce, diesem verlogenen Leben steckte, das sie bisher führte. Viel zu lange schon hatte sie gezögert und gezaudert, hatte sich getraut und war wieder zurück gewichen, hatte Anlauf genommen und vor dem Sprung gekniffen.
"Enterbt", sagte ein älteres Paar zeitgleich mit gefährlich ruhiger Stimme.
Ines lächelte sie gelassen an. Das war der Preis, den sie zahlen musste und sie zahlte ihn gern. Dafür bekam sie etwas, was mit Geld nicht zu bezahlen war, ihre Freiheit und innere Ruhe.
"Wer bist Du, eine Nutte, eine Hure, ein verdammtes Stück Scheiße", der Mann ihr gegenüber redete sich in Rage, "Moral gilt Dir wohl nichts mehr", bei diesen Worten klatschte seine Hand mit Schwung auf ihre linke Wange, " pfeifst wohl auf alle Regeln", jetzt bekam die rechte Wange einen Schlag ab, " machst wohl für Jeden die Beine breit, du ehrloses Stück Scheiße", er spuckte vor ihr auf den Boden und verließ wutschnaubend das Zimmer.
Nur noch eine Person war jetzt mit Ines im Raum. Eine Frau, Mitte 40, rehbraune Augen, schlanke Figur, in einem eleganten Kostüm. Sie hatte die Reaktionen der anderer Personen bisher regungslos beobachtet, ohne ein Wort zu sagen.
Ines blickte ihr nun direkt in die Augen, war diese Frau doch die einzige, deren Reaktion sie nicht vorher sagen konnte.
Lange sahen sich die beiden Frauen an, ohne die Blicke voneinander zu lassen.
"Willkommen im Club", brach die Mittvierzigerin schließlich mit glockenheller Stimme das Schweigen.
Ines blickte verdutzt.
"Wie, Du auch?", brachte sie nach einer gefühlten Ewigkeit heraus.
"Schwestern müssen doch zusammenhalten. Und mal ehrlich, warum sollen wir uns nur mit einem Mann vergnügen, wenn mehrere das Leben viel schöner machen? Ralph und ich leben schon seit Jahren polyamor." Bei diesen Worten hatte die Mittvierzigerin zwei Gläser mit Champagner nachgefüllt und hielt Ines eines hin.
"Auf das Leben, die Männer und die Freiheit", sagten beide zugleich und brachen in lautes Gelächter aus.