Spätschicht (4.Abteilung)
Anne zuckte ein wenig zusammen, als sie sich die Frage stellen hörte. Sie glaubte nicht, dass sie errötete. Aber es fühlte sich so an und sie hielt für einen Moment die Luft an. Es war schwer auszumachen, wie spät es war. Man konnte nur abschätzen, dass sie sich bis ins Morgengrauen geliebt hatten. Gründel genoss es, dass Anne darauf verzichtete, in nahezu jedem Raum ihrer Wohnung einen Chronographen aufzustellen. War es doch so allgegenwärtig in der Gesellschaft, dieser so abgeschmackten Mode zu frönen. Annes Aufbegehren gegen diese Konvention zeugte von Stil. Wenn ihm auch bewusst war, dass sie aufgrund der jahrzehntelangen Konditionierung in der Raumstation und ihrer phasenweisen Alkoholsucht eine strikte Abfolge von Ruhe- und Wachphasen derart in ihrem Biorhythmus internalisiert hatte, dass sie auf einen Wecker verzichten konnte.
Anne hatte wohl einmal mehr vergessen, die bioluminiszenten Fenster mit der thermischen Isolationstrennfuge abzuschirmen. In der Folge waren die lumineszierenden Algenpopulationen in der zwischen den Trennschichten liegenden Nährflüssigkeit ein Opfer der ersten Nachtfröste geworden, welche in den letzten Tagen vom Osten kommend über das Land zogen. Und so schimmerte nach dem Blau des Nachthimmels ein fast schmutzig schimmerndes Morgenlicht durch das Glas und überschüttete den Raum mit einem fahlen Gelbstich.
Durch den blassgelben Lichtschein war der Raum in ein fast goldenes Licht getaucht und lies den zarten Körper Annes auf den Kissen wie eine barocke Engelsdarstellung anmuten. Die Papillen Ihrer Brüste, Muttermale, selbst ihre Finger- und Fußnägel verschmolzen in einem nahtlosen Übergang mit der fließenden Substanz ihres vergoldeten Körpers. Der Schweiß auf Ihrer Haut erzeugte ein fluoreszierendes Glänzen, welches nur durchbrochen wurde durch ihre tiefen, langsam abebbenden Atemzüge.
Gründel faszinierte Annes zuweilen profane Sorglosigkeit in den Dingen des Alltäglichen. Erinnerte es ihn doch daran, welchen Widerspruch Anne in sich vereinte. Stand doch der Umstand, dass sie nach linearen Zeitmaßstäben gut 79 Jahre älter war als er in so elementarem Gegensatz zu der zuweilen jugendlichen Frische und Unbekümmertheit in ihrem Ausdruck und ihren Bewegungen.
Gründel ließ sich einen Moment Zeit mit seiner Antwort. Wenngleich ihm schon seit langem klar war, wie lange diese Frage in Annes Kopf herumschwirrte und irgendwann über ihre Lippen fahren würde. Ihm war zudem klar, dass sie sich angesichts der Ungeheuerlichkeit der Frage des Tabubruchs bewusste war. Und das nahezu jede offene Antwort neue Fragen aufwerfen würde.
„Es ist eine Reise auf Zeit.“
Seine Antwort überraschte sie nun dann doch und verwandelte das Zimmer in einen luftleeren Raum, der eine Kerze nicht zum Flackern hätte bringen können. Zog sie doch in Betracht, dass er ihrer Frage spielend hätte ausweichen können.
Gründel hatte allein aufgrund seiner Erfahrungen in den täglichen Verhören aufgegeben, sich vom ersten Gehalt einer Aussage beeindrucken oder gar provozieren zu lassen. Es ließ sich gut umgehen ohne die innere Beteiligung.
Fähigkeiten, die gefragt und gefördert wurden. Gerade in den Jahren der Regierungszeit der Zirkusclowns, welche die Unkalkulierbarkeit des Handelns als oberste Direktive des diplomatischen Tagesgeschäfts machten. Es dauerte doch seine Zeit und zwei Kriege, diese Geister in den Demenzstationen verlorener Lügen zu entsorgen. Es blieb nicht aus, diese Zeit mit einer gewissen Portion Opportunismus und dem Gestus einer fleißigen Arbeitsbiene zu überstehen. Ein Umstand, welcher ihm verhasster war und ihm mehr Probleme bereitete als die Umsetzung der zum Teil blutigen Abläufe in tagelangen Verhören Verdächtiger. Gründel lavierte da irgendwie durch und es lag auf der Hand, dass seine zum Teil unorthodoxe Vorgehensweise wenn nicht unbedingt erwünschte Ergebnisse, dann doch zumindest Aufsehen erregen würde. Spätestens seit seinen praxisnahen Ausarbeitungen über die linguistische Verpflanzung von Dystopien hagelte es Beförderungen. Bedeutungslos, bis auf die unangenehme Erfahrung des Neids von Kollegen, Mitstreitern, Vorgesetzten. Begleiterscheinungen, welche ihn angesichts der unruhigen Zeiten um so manche Nacht brachten.
Und so amüsierte ihn zum Teil seine beharrliche Weigerung, in der Hierarchie des Geheimdienstes aufzusteigen. Stand sie doch im Gegensatz zur üblichen Entwicklungen in Hierarchien und begünstigte, sich gerade wegen dieser Zurückhaltung für Höheres zu empfehlen und sich gegen die Neider durchzusetzen. Neider, die erst verstummten und auf dem Schrottplatzder Karrieren endeten, als Gründel in den Majorsrang befördert und allzu offene Obstruktion zu gefährlich wurde.
Anne schien es unangenehm, die Frage gestellt zu haben. Er spürte das Verlangen, ihr eine Brücke zu schlagen, strich über ihr Gesicht und lächelte sie an.
Anne setzte sich im Bett auf und musterte das von Gründel konfiszierte Notebook. Scheinbar achtlos auf dem neben dem Bett liegenden Nachtschrank geworfen, nachdem die beiden die holografische Projektion des Physikers vergeblich versucht hatten, über Stunden hinreichend zu entschlüsseln.
„Lass nochmal sehen“.
Gründel überwand mit einem Stoßseufzer die innere Weigerung, sich von der Aura des Moments zu lösen. Ihn ekelte die Vorstellung an, dass sich Anne wie eine billige Schrapnelle aus einem dieser wilden Puffbetriebe fühlte, die einem irgendwo in den Hinterzimmern der Vorstädte entgegen gähnten.
Sie spürte, dass er noch nicht genug hatte, von der Landnahme ihres Körpers in die so düstere Weite der Außenwelt zu segeln. Und so uferte sie ihren Rücken an seinem Körper, lehnte sich mit ihrem Kopf an seinen Schultern, während ihre flinken Hände auf der Notebooktastatur die einzelnen Sequenzen aus der dreidimensionalen Erzählung herausschälten.
Im Mittelteil einer chromosomal angeordneten Sequenz stockte sie. Schien es ihr so, dass sich hinter der Basissequenz noch eine weitere Subebene zu verbergen schien. Gründel spürte ihr Zaudern und merkte auf. Mit dem Finger tauchte er in eine tautologische Formel ein, sodass die Formel in einem farbigen Spektrum an der Zimmerdecke oszillierte.
„Was ist das? Michelangelo?“
Beide lachten angesichts der Vorstellung der Schöpfungsszene in der Sixtinischen Kapelle.
Anne blickte zu Gründel auf.
„Ich denke, hier komme ich so nicht weiter. Als wenn es da eine vierte Ebene geben würde.
Hast Du ein Problem damit, wenn ich das Hologramm im Labor untersuche?“
Gründel zögerte.
„Ich möchte, dass Du da kein unnötiges Risiko gehst. Es ist wohl besser, wenn ich dir den Datensatz direkt in das Labor bringe“.
Anne markierte die Sequenz und verzichtete darauf, ein backup zu fertigen. Nachdem beide die Projektion über Minuten wieder in die rechteckige Pandorabüchse regelrecht zurückschoben, schloss Gründel das Notebook mit einem leichten Durchatmen. Beide schwiegen.
Gründel lauschte noch für ein paar Minuten dem Plätschern des Wassers, als sie in der Dusche stand.
Sie drückte ihren bloßen Körper in seinen Rücken, als er ihr am Küchentresen stehend ein kleines Frühstück zusammenstellte. Im Surren des Kaffeeautomaten streckte er seinen Rücken und atmete durch.
„Ich muss los“, flüsterte er.
© Anchises65
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