Mit den letzten 16 Worten: Ästhetik, besenrein, Brustpelz, jucken, (L)locken, Kult, triebhaft, Zeitgeist
und
Obsoleszenz, Behandlungsfehler, überleben, alternativ, Festlegung, Pharmaindustrie, Medien, Schelm
Lautloser Adel
„Es ist ein Irrtum zu glauben, die entscheidenden Momente eines Lebens, in denen sich seine gewohnte Richtung für immer ändert, müssten von lauter und greller Dramatik sein, unterspült von heftigen inneren Aufwallungen. ...
In Wahrheit ist die Dramatik einer lebensbestimmenden Erfahrung oft von unglaublich leiser Art.
Wenn sie ihre revolutionäre Wirkung entfaltet und dafür sorgt, dass ein Leben in ein ganz neues Licht getaucht wird und eine vollkommen neue Melodie bekommt, so tut sie das lautlos, und in dieser wundervollen Lautlosigkeit liegt ihr besonderer Adel.“
aus :“Nachtzug nach Lissabon“ /von Pascal Mercier, Carl Hanser Verlag,2004
Alma Mater oder: Was bleibt?
Seit drei Monaten liegt meine Freundin Alma im Koma. Bis zum letzten Tag hat sie ihr Leben genossen. Wir führten noch ein Telefonat, bevor sie Tage später durch eine Gehirnblutung ins Koma fiel.
Ihre Stimme am Telefon war so überschwänglich : „Das Leben ist so schön! Ich mache gerade Urlaub bei meinen Freunden in Italien, in den Bergen mit Blick aufs Meer. Es ist so herrlich hier! Helena, genieße das Leben, tue das, was dir guttut!“ Mir fiel schon damals auf, wie sie das „DIR“ betonte.
Über WhatsApp, einer der neuen Medien, schickte sie mir ein Video, Alma eingerahmt von einer Abendgesellschaft in mediterranem Ambiente. Ich sehe eine sichtlich befreit wirkende Freundin, die mit ihren Freunden fröhlich und ausgelassen singt. Scherzend und lachend scheint sie das Leben in seiner ganzen Fülle zu atmen.
Ihre letzte Botschaft geht mir seitdem nicht mehr aus dem Sinn. Gerade vor dem Hintergrund, was ihr kurz danach widerfahren ist, wirken ihre Worte für mich umso eindringlicher. Und gleichzeitig erfasst mich ein befremdliches Gefühl einhergehend mit der Frage, ob das Bekenntnis zum Leben immer dann besonders intensiv aufzuflackern scheint in der Gewissheit des Endlichen.
Wie ist das wohl für sie? Fühlt sie sich gefangen im eigenen Körper? Oder ist es nur ein langer Schlaf?
Ich las in einem Bericht, dass man im Koma durchaus seine Umwelt wahrnimmt. Dennoch wissen wir so wenig darüber, wie man sich fühlt, wenn man nur da liegt, an Maschinen angeschlossen und ohne Bewusstsein.
Ich bewundere ihre innere Kraft. Sie zeigt uns in ihrer scheinbaren Weltabgewandtheit ihre Kämpfernatur, in dem sie sogar einen Schlaganfall im Koma überlebte. Ihre Seele hatte seitdem jederzeit die Möglichkeit, die Last des irdischen Daseins zu verlassen. Jedoch ist da etwas, was fortwährend in ihr kämpft. In Gedanken höre ich immer wieder diese ruhige Stimme wie sie sagte:
„Das Leben ist so schön!“
Aus ihrem Koma heraus zeigt sie uns auf, dass es sich lohnt, für das Leben zu kämpfen. Leben bedeutet allemal mehr, als dass das Menschsein in dem Moment obsolet wird, wenn die äußere Hülle scheinbar nicht mehr funktioniert.
Sie lehnte damals die herkömmliche chemotherapeutische Tumorbehandlung vehement ab und stellte sich gegen die ärztlichen Empfehlungen und die Pharmaindustrie. Positionierte sich in ihrer Festlegung in der Hoffnung, dadurch auch möglichen Behandlungsfehlern auszuweichen. Die Ärzte gaben ihr seinerzeit vor gut Zwölf Jahren allenfalls noch ein bis zwei Jahre Lebenszeit.
Mit Meditation fand sie ihren eigenen Weg für eine alternative Selbstbehandlung und lebte damit ein glückliches Leben.
Ich frage mich, was bleibt, wenn wir alles hinter uns lassen. Was erfüllt uns im Leben?
Was ist es, was uns inneren Reichtum schenkt?
Meine Gedanken wandern zu dem Tag, als ich vor Enttäuschung niedergedrückt am Fluss unter dem Feigenbaum saß und weinte. Eine traumhaft anmutende Landschaft entfaltete sich vor mir: Kleine Fischerboote tändelten auf dem Fluss, welcher sich an den sanften Hügeln entlang schlängelte, bis er sich mit dem nur wenige Meter entfernten Meer vereinte.
Das sanfte Plätschern der Wellen am Ufer und der Wind, der durch mein Haar wehte, spielten eine gleichmäßige Melodie.
Schritte näherten sich und ein Mann sprach mich an, ob er mir behilflich sein könne. Er hatte mich weinen hören. Ich weiß nicht was es war, was mir an ihm so gefiel. Eine ästhetische Erscheinung war er allemal mit seinem dunklen Nadelstreifen Anzug, auf der Promenade jedoch etwas ungewohnt. Engelslocken hatte er keine, sein dünnes Haar war schon grau an den Schläfen. Aber da war dieses schelmische Lachen und diese sanfte Stimme. Dieser Hauch von Mitgefühl ließ mich gleichzeitig frösteln und wärmte doch so meine Seele. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und war dankbar für diese Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde. Ich erzählte ihm von mir und meiner Enttäuschung, wir gingen am Ufer spazieren und verbrachten den ganzen restlichen Tag miteinander.
Als wir uns ein paar Tage später trafen, besuchte ich ihn in seinem Büro. Er öffnete mir die Tür und unsere Augen begegneten einander. Einer langen Umarmung folgte ein sinnlicher Kuss, er küsste meine Seele und unsere Leidenschaft ergoss sich über seinen Schreibtisch.
Wir lebten unsere Lust triebhaft aus. Besuchten kultige Fetischpartys, ganz im Zeitgeist. Tanzten, bis uns das Personal hinauswarf, um den Partyraum besenrein für die nächste Veranstaltung herzurichten.
Die wenigen Stunden, die wir miteinander verbrachten, waren intensiv, schön und aufwühlend.
Nach einer durchtanzten und wilden Nacht lag ich neben ihm und kraulte seinen spärlichen Brustpelz. Es war der letzte gemeinsame Morgen. Die Morgensonne flutete den Raum in goldenes Licht. Mein Zug fuhr ein paar Stunden später. Ein Abschied ohne Worte, ein letzter Kuss, dann ein geflüstertes Adieu.
Was bleibt, wenn wir alles hinter uns lassen, was erfüllt uns im Leben? Was ist es, was uns inneren Reichtum schenkt?
Für mich sind es meine starken Gefühle, meine Leidenschaft die ich lebe und meine Liebe, die ich schenke. Wenn es mich juckt, etwas Verrücktes zu tun, wieso nicht? Wenn es mich und vielleicht auch andere glücklich macht. "Dann tu es doch einfach!"
Und ich stelle mir die Frage, was ich tun würde, wenn ich wüsste, dass ich nur noch einen Tag zu leben hätte. Was würde ich im Sinne meiner Freundin tun?
Ich entscheide mich, ans Meer zu fahren!
Danke Alma!
© Aphroditee, 29.01.2020