Ping!!!
Schon wieder eine dieser nutzlosen Nachrichten, die mich in dieser Zeit via WhatsApp geradezu spamartig überschwemmen. Ich bin es ja selbst schuld, schließlich habe ich diesen unsäglichen Messenger höchstpersönlich wegen der Corona-Krise eingerichtet. Naja, eigentlich schon eher, weil es die einfachste Methode war, um an bestimmte Bilder vom Rosenmontag zu gelangen.
Rosenmontag. Auch so etwas, was ich eigentlich bislang mied wie der Teufel das Weihwasser. Doch seit ich im vergangenen Jahr in dieses Projekt einstieg, hat sich eine Menge verändert. Ich mache Erfahrungen, die andere bereits in ihren ersten Lebensjahren hinter sich bringen, die auch noch jetzt ihre täglichen Begleiter sind. Vermutlich habe ich solche Erfahrungen auch schon eher gemacht, aber sie sind im Zuge der Selbstverweigerung spurlos an mir vorbeigegangen.
So stelle ich, die ich eigentlich als viel zu reflektiert gelte, fest, dass ich in einen Strudel geraten bin, der mir lange Zeit die Möglichkeit zu nehmen schien, mich auf mich zu konzentrieren. Es gab so vieles zu entdecken, zu erleben; es waren so viele Dinge zu tun, für andere, die ich gerngewonnen habe.
Seltsam. Das Wort „gerngewonnen“ wird mir von meinem Korrekturprogramm als Fehler angezeigt. „Liebgewonnen“, das kennt es und erkennt es als richtig an. Was mich zu dem Schluss bringt, dass sogar im Schriftlichen Differenzierungen nicht gern gesehen werden. Ist der Unterschied zwischen gern- und liebhaben so gering, wie es mich dieses Korrekturprogramm glauben machen will? Wie ist das überhaupt, mit dem Liebhaben und Gernhaben, mit der Liebe, dem Mögen, dem unverbindlichen Sex und der Freundschaft Plus? Da werden die Partner einer Affaire gerne mal als „Liebhaber“ bezeichnet, gleich, ob sie sich wirklich nur liebhaben oder lieben oder aber es wirklich nur um Sex geht. Enge Freunde geben an, dass sie sich liebhaben – aber dennoch sind sie keine Liebhaber. Gernhaber gibt es ebenso wenig wie den Umstand, jemand gerngewonnen zu haben. Und da wundern wir uns, warum unsere Sprache als so kompliziert angesehen wird…
Liebgewonnen habe ich allerdings ein kleines, menschliches Wesen, das ich noch nie persönlich getroffen habe. Das erwähne ich im Zusammenhang mit dem oben erwähnten „Ping!“, das mich aus meiner den Ostertagen geschuldeten Lethargie gerissen hat. Corona-Ostern, so nennen viele diese Zeit. Dumme Witze werden darüber gerissen. Zum Beispiel, dass man statt der Eier nun seine Freiheit suchen müsse. Dabei muss man nicht im Kaffeesatz lesen können um zu wissen, dass die Freiheit eines jeden da endet, wo er die Rechte eines anderen beschneidet. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein ganz gewaltiges Recht, würde ich nun mal behaupten. Und in dieser Zeit gehört der Lockdown einfach zu den probatesten Mitteln, um dieses Recht weitestgehend zu gewährleisten.
Natürlich würde auch ich lieber wieder meiner Arbeit nachgehen, nicht nur für das Einkaufen oder meine ärztlichen Termine meinen gut gepolsterten Hintern hoch und aus dem Haus kriegen. Wenigstens bekomme ich ihn hoch, denn ich nutze die Zeit auch, um in meiner Wohnung ein paar dringend nötige Änderungen und Verbesserungen durchzuziehen. In der Zeit, in der mein nicht mehr so ganz junger und leider auch nicht mehr unversehrter Körper sich weigert, dieses Wohnungsprojekt durchzuführen, finde ich andere Wege, um mich zu beschäftigen. Schreiben, zum Beispiel. Zurzeit ganz wichtig für mich. Da haben sich in den letzten Monaten scheinbar eine Menge Inspirationen angesammelt und die Saiten meines Schreibinstruments so gestimmt, dass eine Melodie nach der anderen in meine Geschichten fließt. Meine Muse singt ganze Opern statt einzelner Arien.
Eine ganz besondere Oper beginnt mit diesem Ping.
Eigentlich müsste man dieses Ping schon fast als das Happy End einer anderen Geschichte ansehen, da es für mich nachgerade eher ein Elmsfeuer statt einem kleinen Licht am Ende dieses dunklen Tunnels ist. So hell hat noch nie die Hoffnung geleuchtet, kein Schlussakkord war je so sehr ein Beginn wie dieses Ping.
Und doch ist es auch ein Schluss. Ein Ende. Ein stilles, dezentes Ableben eines Schweigens, das Jahre andauerte. Der langsame Exit einer Distanz, die schmerzte; die einen entzündungsverursachenden Stachel in meinem stets fragilen Gemütszustand darstellte.
Was war geschehen, in dieser anderen Geschichte? Ist dies wichtig für dieses neue Kapitel?
Ja und nein. Um zu verstehen, wie so ein kleiner Laut eine so unglaubliche Wirkung haben kann, muss man die Geschichte kennen. Man muss wissen, dass ich vor Jahren durch ein nahezu undurchdringliches Geflecht aus Schuld und Liebe, Lügen und Aktionismus, aus Verletzungen und deren Folgen watete und nicht mehr erkennen konnte, wer nun die „Guten“ und wer die „Bösen“ in diesen Tagen waren; vermutlich auch deswegen, weil es nie ausschließlich gute und böse Menschen gibt. Aber es gibt unbegründete Verdächtigungen und vorschnelle Entschlüsse und Handlungen, die Spiralen auslösen, die sich immer schneller und enger drehen – bis irgendjemand den Mut findet, diese Spirale anzuhalten.
Ich war noch nie besonders mutig.
Dementsprechend hielt ich die Spirale nicht an, sondern ich versuchte immer nur, sie zu bremsen, ihr die Macht zu nehmen, indem ich sie in kleinere Teilspiralen aufsplittete. Man muss kein Handbuch der Psychologie gelesen haben um zu wissen, dass ich damit die Leiden aller nur verlängerte, zum Teil vergrößerte. Allerdings gelang es mir durch diesen Schritt, in mühevoller, harter Arbeit dafür zu sorgen, dass jede der Spiralen zum Stillstand kam und konnte dann, wie die Opfer eines Tornados, damit beginnen, die Einzelteile meines Lebens zusammenzusuchen, um sie neu aufzubauen.
Ich stecke noch immer inmitten dieses Aufbaus. Das ist nicht leicht; nicht wie bei einem Puzzle, bei dem Farbe und Form eines jeden Teils dessen Platz vorgibt. Es ist eher so, als würde man die Trümmer einer Scheune benutzen um ein Haus zu bauen. Manches kann man übernehmen, aber oft steht man vor Herausforderungen, um aus all dem ein Ganzes zu formen. Eine Einheit, die nicht nur praktisch ist und standhält, sondern auch die Art Schönheit und Wohnlichkeit birgt, die wir benötigen, um aus einem Haus ein Heim zu machen.
Vieles an Schönheit habe ich bereits entdeckt. Wie gesagt, allein im vergangenen Jahr habe ich so viele wunderbare Kleinode gefunden, die nun mein provisorisches Seelenhaus schmücken. Erkenntnisse, die das Feuer im Kamin wärmen, Worte, gleich Kunstwerken in meinem Herzensraum ausgestellt, dem Raum, in den ich gehe, wenn sich mein Selbstwertgefühl entmutigt fühlt. Gesten, die Nahrung sind, die nur Seelen sättigen kann.
Und doch war da immer etwas, was fehlte. Etwas, das bei all der Hoffnung, bei all der Zuversicht, bei all der Wohnlichkeit mein Haus in ein Heim, ein Zuhause machen kann. Es gab keine Musik. Und keine Blumen.
Das „Ping“, das mich zu Beginn so störte, fiel also in die Stille meines Seelenhauses, breitete sich aus und wuchs zu einem Crescendo. Sobald ich ihm nachgab und die Nachricht, die es angekündigt hatte, öffnete, begann es zu variieren und formte wahre Kaskaden an Melodien, eine hoffnungsvoller und unglaublicher als die andere.
Die Nachricht war von meinem Sohn. Dem älteren, wohlgemerkt. Seit Jahren hatten wir kein Wort miteinander gewechselt geschweige denn uns gesehen. Kein Streit ging dem voran, nur unglückliche Entscheidungen, die letztendlich dazu führten, dass ich erst zufällig in einem Post bei Facebook entdeckte, dass ich Schwiegermutter geworden war. Und etwas später dann erfuhr ich auf dem gleichen Wege, dass sich ein winziger Teil meiner Desoxyribonukleinsäure in der Welt verteilt hat...
Die Posts stammten von meiner Schwiegertochter und ich nahm Kontakt zu ihr auf, über Facebook, denn ich wusste noch nicht einmal, wo mein Sohn und seine Familie leben. Die Antworten von ihr waren freundlich und ich kratzte ausnahmsweise einmal genug Mut zusammen um ihr meine Telefonnummer zu geben, damit mein Sohn sich bei mir melden könnte, wenn er es denn dann auch wollte.
Das schien nicht so zu sein, denn ich hörte nichts von ihm.
Ich ermahnte mich selbst immer wieder, Geduld zu haben. Nichts fordern, nur bereit sein zu geben, wenn es gewollt ist. Welches Recht haben wir Eltern, wenn wir unsere Kinder haben ziehen lassen, ihre Aufmerksamkeit zu fordern? Ich gestand es mir nicht zu. Nein, ich will nicht die Art Mutter sein, die darüber jammert, wenn die Kinder nicht die Zeit für einen Besuch finden. Das Leben fordert den Menschen so viel ab, dass ich es völlig verstehe, wenn da die Möglichkeiten begrenzt sind. Ich will nicht zur Pflicht werden, eine Last, die nur ungern wahrgenommen und getragen wird. Also hielt ich still, wartete. Und mein Seelenhaus blieb eine Wohnstätte.
Bis uns alle diese Pandemie ereilte und neben meinem Vermissen auch noch die Sorge Einzug hielt. Wie geht es den dreien? Sind sie gesund? Wie kommen sie mit all dem klar? Und so schrieb ich noch eine Nachricht an meine Schwiegertochter. Dass ich gerade jetzt sehr viel an sie denken würde und hoffte, dass sie gut und gesund durch diese Zeit kämen.
Und dann folgte… dieses Ping. Die Nachricht. Und mit ihr Bilder von meiner Enkelin. Ein kleines, knubbeliges Ding, so zauberhaft und liebenswert, dass ich mich nicht sattsehen kann an ihr.
Jetzt endlich singt mein Herz. Es stimmt Freudengesänge an, zu Ehren des kleinen Samens, der in dem bisher so verwaisten Blumenbeet vor meinem Seelenhaus keimt. Es singt der Stille jene Wiegenlieder, die ich meinen Söhnen vorsang.
Und es jubiliert zum Richtfest meines Seelenheims.