Viva Colonia
Bei mir haben alleine die drei Begriffe Schwellung, Loch und Quasimodo Assoziationen zu der im Rheinland durchaus beliebten fünften Jahreszeit geweckt und mich über das aktuelle Kontaktverbot nachdenken lassen, na ja, lest doch selbst:
Viva Colonia …
… Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust …
Volltreffer! - Wir sind in Köln, mitten in der fünften Jahreszeit.
Kölsche Fasteleer!
Immis (die Zugezogenen) diskreditieren dieses rheinische Lebensgefühl gerne und Nase rümpfend als profanen Karneval.
Die haben doch keine Ahnung … die Zugezogenen.
Die fünfte Jahreszeit hat nicht im Geringsten etwas mit profanem Karneval zu tun.
Die rheinische fünfte Jahreszeit, die nicht einmal Vivaldi zu komponieren imstande war, ist ein Lebensgefühl, „e Jeföhl“, wie wir meinen.
Und solch ein „Jeföhl“ von Jahreslauf beginnt natürlich nicht am 1. Januar und endet mit dem 31. Dezember, nein, für uns Kölsche beginnt das Jahr am 11. November, dem Elften im Elften, und … es nimmt einfach kein Ende.
Wir Kölsche haben immer Fasteleer, 475 Tage im Jahr.
Oho, jetzt denkt ihr, der Alte spinnt und kann nicht rechnen …
Sorry, ich muss grad mal den Refrain mitsingen: Viiivaa Colonia …
Okay …
Zurück zum mathematischen, statistisch belegten Beweis: Unser 1. FC Köln, also der Eff Zeh, hat sechs Spiele absolviert, alle verloren und null Punkte. Natürlich kann das nicht sein, denn aus dem statistischen Mittel aller Bundesligapartien seit 1964 folgerichtig abgeleitet, müsste er mindestens elf Punkte nach der alten Zwei-Punkte-Regelung haben, laut aktueller Drei-Punkte-Regel sogar schon 16. Egal.
Wissen wir doch, dass das Multiplizieren und Dividieren von Nullen außerhalb Kölns unzulässig ist.
„Drei mol Null es Null es Null, denn mir woren en der Kaijass in der Schull, en der Schull“ … und so weiter. Ach ja, ich war ganz vom Thema abgewichen, zu dumm aber auch, dass mir beim Thema Karnevalstruppe immer gleich der 1. FC Köln in den Sinn kommt. Andererseits sind wir Kölsche ja auch durch unsere, dem Rest der Republik weit überlegene, sozusagen „sprunghafte Intelligenz“ berühmt.
Uns haben immerhin die Römer gegründet, wobei sie damals, als es das verfeindete Düsseldorf eigentlich noch gar nicht gab, dort nur mit ihrem Varus im Schweinsgalopp vorbei gerannt sind, um sich dann im Teutoburger Wald von diesem komischen Hermann … aber nee, lassen wir das … zum geschichtlichen Hintergrund ist es einfach nur wichtig zu wissen, dass Köln nach der denkwürdigen Varus-Schlacht plötzlich im Mittelalter war und – bis auf läppische 200 - fast 1000 Jahre Zeit hatte, Stein auf Stein zu setzen, um den Dom zu errichten.
Ihr habt richtig gelesen, 800 Jahre Bauzeit, und damals gab es die Gewerkschaft Bau, Steine, Erden noch gar nicht, die haben wir quasi ebenfalls erfunden, obwohl wir noch gar nichts von den neuzeitlichen Heuschrecken wussten, wissen konnten.
Okay, die Kölner Heuschrecken waren schon immer die Tauben, und die kacken uns irgendwann noch mal den ganzen Dom kaputt.
„Mir losse der Dom in Kölle, denn do jehürt er hin ...“ - Auch komisch, dass mir gerade bei diesem Schlager der Bläck Fööss unweigerlich jener Heinrich Institoris in den Sinn kommt, der seinerzeit mit seinem Hexenhammer die in Köln und dessen Umland exquisit zelebrierte Hexenverfolgung legitimiert hat. Naja, wenigstens wurde das Pulver verbrannter Hexen als Heilmittel verwendet, so gesehen haben wir in Köln sogar die moderne Homöopathie erfunden.
Jetzt habe ich aber genug über altbewährte Bräuche und innovative Errungenschaften schwadroniert … doch dass uns die Kurie mit diesem, aus der Ostzone stammenden, Kardinal Meisner zur Strafe für unsere bereits frühzeitlich organisierte, gewerkschaftliche Ordnung auch noch die sieben biblischen Plagen … nee, das geht zu weit.
Ich will nix gesagt haben, immerhin sind die Foltermethoden seit Einführung der Homöopathie durchaus verfeinert worden.
Doch genug der Vorrede, ich habe etwas zu gestehen!
Ich gebe zu, ich selbst habe gefoltert.
Jawohl, ich war ein Folterknecht.
Nicht, dass ich unbedingt Heilmittel hätte herstellen wollen … nein, vorsätzlich war es nicht, eher unbewusst, gleichsam ein Reflex, eine Laune, ein bösartiger Teufel, der mich dazu … sagen wir mal … „genötigt“ hat, die Eiszeit der ganz und gar unheiligen Inquisition mitten in die heiße Glut der rheinischen, der fünften Jahreszeit zu tragen.
Aber meist sind es ja die Zufälle, diese unglücklichen Begleitumstände rheinischen Frohsinns, die einen vom Opfer zum Täter machen.
Kneipenkarneval in Köln. (Beginn der Aufzeichnung)
Viva Colonia …
In Dreierreihen vor dem Tresen schunkelnde, saufende und ausgelassen fröhlich feiernde Menschen. Männlein und Weiblein - Clowns, Piraten, Gespenster, Maikäfer, Prinzessinnen, Pappnasen, Vampire … das ganze Programm.
Hände an den pikantesten Stellen, „he, Mädcher, stell dich nit esu ahn, so jung kummer nie widder zesamme ...“
Schunkelnd, tänzelnd, mich wie ein Aal windend, hatte ich mich bis zum Fenster vorgekämpft, Bützchen hier und Bützchen da, meine komplette Maskerade,¬ je ein mit Kajal umrandetes Herzchen aus kirschrotem Lippenstift auf Wangen und Stirn – war dank saunaartiger Temperaturen und sabbernder Jecken binnen weniger Minuten enttarnt, zum Glück hatte ich noch eine Perücke aus langem, brünetten Haar, mit bunt gepunkteten Schleifen neckisch zu zwei seitlichen Zöpfchen geflochten.
Blond oder rot hätte sicher besser ausgesehen. Brünett musste albern wirken.
Doch ich hatte es geschafft.
„Viiiivaaa Colonia …“
Der Frohsinn eskalierte zu überschwänglicher Fröhlichkeit. Ich war dankbar, dass ich – ohne überhaupt daran genippt zu haben – zumindest ein halbvolles Glas Kölsch hatte retten können, ließ meinen Po, unter dem Drängen und Schubsen der tanzenden, hüpfenden Meute, schwer auf den einzig freien Platz der ausladend breiten Fensterbank plumpsen.
„He, mach' dich nicht so fett, pass' doch auf, du blöder Hund!“
„Sorry, hab' ich nicht gewollt ...“
Hatte ich wirklich nicht. Warum auch sollte ich so heftig mit meiner Hüfte gegen die ihre stoßen, dass ihr fast das Glas aus der Hand gefallen wäre?
„Ist ja schon gut!“ - Dabei schaute sie mich nicht einmal an, stierte stattdessen Gedanken verloren in die johlende Menge.
Ich schenkte ihr weiter keine Beachtung, unsere zwangsweise eng aneinander gepressten Oberschenkel erreichten allerdings eine Temperatur, die mir eher unangenehm war.
Tief durchatmen, ein kleiner Schluck … bäh, pisswarm die Plörre!
„Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust ...“
Die links von mir und rechts von ihr wie Dicke Sauerländer vor dem Konservieren aufgereihten Jecken versuchten, uns zum Schunkeln zu bewegen, was den rechts von mir Aufgereihten gelang, denen zu ihrer Linken aber nicht. Ja, sie entzog sich sogar meinem Versuch, sie einzuhaken, indem sie ihren Oberkörper einfach nach vorne neigte.
Holla.
Erst frech, und dann auch noch arrogant.
Während mich die Dicken Sauerländer zur Rechten immer wieder unsanft im Takt des Frohsinns gegen ihre Flanke stießen, hatte ich ein wenig Muße, die Unnahbare ein bisschen genauer zu betrachten.
Genau genommen sah ich nicht viel mehr, als dass sie ihre schwarzen Haare mit zahllosen bunten Perlen zu Dreadlocks geflochten hatte, einen rosa, nein, eher flohfarbenen Bustier trug und … wow … eine Hüfthose, die aufgrund ihrer etwas angespannten Sitzsituation extrem tiefe Einblicke gewährte.
He, die trug ja nicht mal 'nen Slip.
Wenn doch, (vielleicht einen Panty) war der reichlich tief gerutscht.
Ich kenne solche Situationen.
Ältere Modelle, da ist der Gummi vielleicht ein bisschen ausgeleiert, und schon suchst du den Schutz des nächsthöheren Regals im Kaufhaus, um das Ding unbemerkt wieder über die Backen zu ziehen.
Offensichtlich hatte sie von derartiger Scham noch nichts gehört, vielleicht auch gar keinen Sinn dafür. Oder gar keinen Slip an ... Mein Glück, dass sie die Schwellung nicht bemerkte, derer ich in diesem Moment nicht Herr zu sein vermochte.
Was soll ich sagen: das war der Moment, der mich zum Täter werden ließ. „Nein, tu's nicht!“ schrie mein Gewissen, „holla!“, skandierten die Teufel. Dieses pisswarme Bier schmeckte ohnehin nicht … und … schwupps, hatte sich der Rest des Obergärigen einen Weg in die Ritze ihrer – zugegeben – einladend schönen Backen gebahnt, ohne dabei den Bund ihrer Jeans im Mindesten zu benetzen.
Faszinierend.
„Viiiiiiivaaaa Coloooniaaa ...“
Vorausschickend muss ich sagen, dass die Hitze des Frohsinns uns alle auf der Fensterbank Sitzenden wie eine Saunawelle ergriff, doch die Fenster selbst waren nicht ganz dicht. Und … in diesem kalten Februar … hätte sie doch um jede warme Gabe …
Aber nein. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf, schrie hysterisch, tobte dabei wie Rumpelstilzchen: „Welche Sau war das?!“
Ups.
Wie peinlich.
Die Teufel rumorten.
Der unmittelbar vor uns stehende … okay: durch starken innerlichen Seegang im ganz eigenen Rhythmus der Wogen schwankende … Seemann war mir gleich aufgefallen. Einen halben Liter Weizenbier in der Hand, blau und weiß, quer gestreift, und das mitten in Köln …
Diese verfluchten, rumorenden Teufel.
„Der da, der war's!“
Noch ehe ich begreifen konnte, was meine kleinen Teufelchen gerade gesagt hatten, riss sie ihm das Glas aus der Hand, beschimpfte ihn als „dreckiges, perverses Schwein“, und … auweia … kippte ihm den gesamten Inhalt über den Schädel. Die Matrosenmütze hatte sie ihm zuvor entrissen, und die meisten Haare gab es darunter auch nicht mehr, die diesen Sturzbach hätten aufhalten können.
Wie konnte ich denn auch ahnen, dass sich dieser arme Leichtmatrose nach dem Duschen in eine urgewaltige, bayerische Krachlederne verwandeln würde? Und noch dazu derart vulgär!
„Du Schlamperte, du elendige …“
Er hatte bereits ausgeholt, als ihn Umstehende - eine etwas arg pummelige Biene, und ein Zähne fletschender und aus irgendeinem zerkauten Beutel Drachenblut sabbernder Vampir - gerade noch vor dem finalen Schlag bremsen konnten, ihn sogar überwältigen und unsanft zu Boden werfen mussten, ehe den zappelnden, tobenden und derbste Flüche Ausstoßenden gleich sechs kräftige Männer aus dem Lokal zerrten.
Was hatte ich da nur wieder angerichtet?
Das Schlimmste aber war, dass der als Quasimodo kostümierte Wirt unmittelbar nach dem Schweine-Schrei meines unbekannten Hüfthosen-Opfers den CD-Player abgestellt hatte, was gefühlte zehn Minuten später auch der letzte Gast - ein mit seinem aufgrund der Turbulenzen leicht derangierten Hinterteil kämpfender Zentaur - bemerkte.
„Wer hier Stunk macht, der fliegt raus!“, schrie der Wirt und kündigte an, dass die Party erst weiter gehe, wenn auch der letzte der Streithähne „sing Weetschaff“ verlassen hätte.
Dass Stille so quälend sein kann!
Gedankenverloren schaute ich der Unbekannten hinterher, die dem Wirt wutentbrannt einen sorgsam gefalteten Geldschein, den sie umständlich aus ihrer engen Hosentasche fingerte, ins Gesicht schnippte.
Nun ja. Temperamentvolle und konsequente Frauen mag ich, und für einen kurzen Moment hatte ich sogar ihr ebenmäßiges Gesicht gesehen, diese feurig funkelnden, braunen Augen, das energische Kinn … Wie blanker Hass doch die schönsten Menschen entstellen kann!
Waren das meine Gedanken?
„Heidewitzka, der Kapitän, mi`m Müllemer Böötche fahren mir su jähn ...“
Der nun galoppierende Frohsinn nahm seinen finalen Lauf, und ich musste die ganze Kraft meiner Ellenbogen einsetzen, um bis zur Tür, hinaus aus diesem Loch, zu gelangen.
Erst mal tief durchatmen.
Puh.
Damals waren die Kneipen ja noch nicht rauchfrei, so dass ich erst einmal meine tränenden Augen reiben musste, um die Unbekannte gerade noch am Ende der Häuserzeile entdecken zu können.
„He, warte! Bitte!“
Sie machte keine Anstalten, sich nach mir umzudrehen, dennoch hatte ich das Gefühl, dass sich ihre Schritte verlangsamten.
Ich hätte nur ein kleines bisschen schneller gehen müssen, um sie in weniger als einer Minute einzuholen.
„So warte doch ...“
Ich hatte erhebliche Mühe, die uns Kölschen trotz besten Willens angeborene Distanz zu wahren … sie blieb fast stehen, während ich gerade mit dem Humpeln begonnen hatte. „Autsch. Mein Fuß, umgeknickt!“
Ups.
Das war jetzt ganz blöd.
Denn sie hielt inne, drehte sich zu mir … und kam zurück.
Während ich einsah, dass die mich stützende Laterne nicht davor bewahren konnte, meinen zunächst (vielleicht etwas voreilig) gefassten, mutigen Entschluss einer Entschuldigung zu revidieren, stand sie bereits vor mir. „Hast du dich verletzt?“
Der Blick ihrer schönen braunen Augen drang tief in meine Seele, so tief, so klar, so voller Wärme, dass ich gar nicht mehr anders konnte: „Ich, ich, m.. muss, ww... will … das mit dem … mit dem B.. Bier, das war ich.“
„Weiß ich doch.“
Alles hatte ich erwartet, nur nicht …
„Ich hab's gleich geahnt, aber ich bin halt ein bisschen ausgerastet. Tut mir echt leid für den armen Kerl.“
Noch ehe ich etwas erwidern konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte davon, ließ mich einfach stehen … nein, laufen … doch sie war schneller, verschwand im Dunkel der Nacht.
© Mercurio13