Wie man ein Bild malt
„Das ist es.“
Verlegen und doch aufgeregt verharrte Biene vor der Staffelei. Jetzt, in dem Augenblick, kurz bevor Drake das flohfarbene Tuch von der Leinwand nehmen würde, fragte sie sich, ob es eine gute Idee gewesen war, gerade ihn zu bitten, dieses Werk zu begutachten. Schön, er ist Künstler und er mag Bilder, in denen sich fantastische Wesen tummeln. Und er sollte ja auch eigentlich mehr die Technik, ihre Maltechnik auf den Prüfstand stellen.
„Irgendetwas fehlt“, hatte sie ihm erklärt. „Es ist angefüllt von all dem, was mir in meinen Träumen begegnet ist, eine surreale Szene voller Zentauren, die sich um ein Quasimodo gleichendes Wesen scharen. Es ist nicht ganz klar: Kämpfen sie für ihn oder bekämpfen sie ihn? Aber es wirkt auf mich eher wie ein Wimmelbild, nicht wie ein Gemälde. Die Aussage entzieht sich mir und ich weiß nicht, wie ich sie herüberbringen soll.“
Er hatte gelacht, auf seine leise, zurückhaltende Art. „Na, du hast ja Träume.“ Als sie errötete, wurde sein Grinsen breiter, aber auch weicher. „Schon in Ordnung. Wenn sie dich zu Bildern inspirieren, umso besser.“ Er hatte sich einverstanden erklärt, sich das Bild einmal anzusehen und nun war er hier, stand einfach so in Bienes Atelier.
Und sie traute sich nicht. Sie hatte einfach nicht den Mut, ihn dazu aufzufordern, doch endlich einen Blick auf ihr Bild zu werfen. Oh, sie konnte gut malen, das hatten ihr immer wieder alle versichert. Ihre Kommilitonen und ihre Professoren waren voller Lob und große Teile der hiesigen Kunstszene rissen sich seit ihrer ersten Vernissage darum, ein Bild von ihr zu ergattern.
Und sie hatte gemalt. Ein Bild nach dem anderen, fast wie am Fließband. Nur, dass Malerei eben keine Fließbandarbeit ist, nicht wahr? Die Inspiration riss nie ab. Fast fotorealistisch bannte sie ein Motiv nach dem anderen auf die Leinwand und selbst eine nichtssagende Sicherheitsnadel gewann, als Gemälde von ihr, an Bedeutung. Sie war der Star ihrer Heimatstadt. Kein Enfant terrible, im Gegenteil. Durch ihre unprätentiöse Lebensart, ihren Fleiß erhielt sie schließlich sogar ihren Spitznamen, Biene. Sie war sich nie sicher gewesen, ob sie ihn mochte, aber gut – er drückte in gewisser Weise die Zuneigung ihrer Fans aus, nicht wahr?
Und dann kam der Unfall. Nichts Großartiges, selbst hier vermied ihr Schicksal ein Drama. Sie war einfach nur gestolpert. Hatte versucht sich abzufangen, mit den Händen voraus. Dumm nur, dass sie sich gerade in einer Imkerei befand, inmitten eines Gefolges von Presseleuten, die es für einen guten Einfall gehalten hatten, sie inmitten ihrer „Kollegen“ abzulichten. Dumm nur, dass sie sich auf einem dieser Kästen abstützte, die überall auf der Wiese herumstanden. Dieser hielt der Wucht des Aufpralls nicht stand und kippte um. Spätestens in diesem Moment war ihr dann klar, dass es sich bei „diesen Kästen“ um Bienenstöcke handelte, denn das Volk schwärmte aus und bekämpfte den Angreifer. Bis der Imker die Lage wieder beruhigen konnte, hatte Biene schon so viele Stiche abbekommen, dass sie in ein Krankenhaus gebracht werden musste.
Nun, die Schwellungen klangen ab, aber mit ihnen auch die Inspiration. Die Muse hatte Biene verlassen und sie fiel in ein abgrundtiefes Loch.
Was folgte, waren Jahre, in denen Biene die Lorbeeren erntete, aber keine neuen Bäume pflanzte. Sie ließ sich herumreichen, von einer Talkshow zur anderen, besuchte die Vernissagen anderer Künstler und lächelte immer nur geheimnisvoll, wenn sie jemand fragte, was sie denn gerade mache.
Gerüchte kamen auf. Eine „kreative Schaffenspause“ war das netteste, was ihr unterstellt wurde. Andere vergaloppierten sich in Theorien über Depressionen oder andere psychische Erkrankungen und böse Zungen behaupteten, dass sie einfach kaputt sei und versuche, sich mit ihren Auftritten an dem bisschen Ruhm, das ihr noch geblieben war, festzuklammern.
Wie recht sie doch alle hatten.
Nur folgerichtig war, dass die Einladungen mit der Zeit immer seltener bei ihr eintrudelten und irgendwann blieben sie ganz aus. Biene versuchte mit allen Mitteln, ihre Inspiration wiederzufinden. Psychotherapie, Alkohol, Gras, also die üblichen Verdächtigen, halfen ihr nicht. Sie stieg auf stärkere Mittel um. Psychoaktive Substanzen, bizarre Sexorgien, Extremsportarten, Reisen in die entlegensten Winkel der Erde, um Schamanen, Yogameister und andere Scharlatane aufzusuchen – all das half nicht viel.
Sie probierte so viel aus, so schnell nacheinander, dass ihr gar nicht wirklich auffiel, wann die Träume tatsächlich begannen. Als sie endlich wahrnahm, dass es nur Variationen eines Grundthemas waren, packte sie der alte Schaffensdrang und zitierte sie zurück an die Staffelei. Die ersten Versuche waren grauenvoll. Der Fotorealismus, der ihre früheren Werke kennzeichnete, war hier völlig fehl am Platz und ihr wurde mit jedem Bild deutlicher vor Augen geführt, dass sie alles, was sie bisher über die Malerei gelernt hatte, über den Haufen werfen musste. Wie ein kleines Kind lernte sie, jeden einzelnen Strich neu zu setzen, musste sie lernen, die Farbe auf andere Art aufzutragen wie bisher. Vom Fließband war keine Rede mehr. Über ein Jahr arbeitete sie an diesem Bild, vor dem sie nun zusammen mit Drake stand.
Er sah sie fragend an. „Darf ich?“ sollte das heißen und zögernd nickte sie, beobachtete, wie er einen Schritt auf die Staffelei zu machte, eine Hand an das Tuch legte. Fast hätte sie aufgeschrien: „Warte!“
„Es ist noch nicht fertig, es ist noch lange nicht fertig“ stammelte etwas in ihr, aber sie sagte kein Wort. Sie wäre auch gar nicht fähig dazu gewesen.
Drake zog an dem Stoff, zog ihn zur Seite, bis er sacht auf den Boden fiel, enthüllte mit dieser Bewegung ihr innerstes Wesen.
Biene schloss die Augen. Sie wartete auf sein Urteil, ergeben, so als wisse sie jetzt schon, dass dies nur vernichtend ausfallen konnte.
Stille.
Eine dieser Arten der Stille, die lange anhielt, die alles und nichts bedeuten konnte. Eine dieser Arten der Stille, die zutiefst verunsichern, weil man auf etwas wartet, auf einen Laut, wie gering er auch sein mochte, gleich, ob er nun wertschätzte oder verachtete. Eine dieser Arten der Stille, die so lange dauerte, dass man sich noch nicht einmal mehr traute, sie mit einem gehauchten „Und?“ zu stören, obwohl man am liebsten laut geschrien hätte. „Jetzt sag doch endlich was!“ Aber man schweigt, denn in dem Augenblick, in dem man die Stille durchbricht, zerbricht auch etwas in dem, der die Stille zerbrochen hat.
Dann ein Räuspern. Biene öffnete die Augen, sah zu Drake. Der wiederum schaute sie an. Bleich war er geworden, kleine Schweißperlen begannen sich auf seiner Nase zu sammeln. Der verstörte Ausdruck auf seinem Gesicht wollte so gar nicht zu dem Anlass passen: Sie begutachteten doch nur ein Bild von ihr!
Drakes Blick wanderte immer wieder zwischen dem Bild und Biene hin und her. Gesagt hatte er immer noch nichts. Schließlich hielt sie das Schweigen nicht mehr aus.
„Was ist los, Drake?“
Sein Blick hielt inne, so als habe er einen Impuls von außen gebraucht, um diese unsinnige Wanderschaft zu beenden. Es erinnerte ein bisschen an jemanden, der in einem Zimmer auf und ab läuft, bis irgendjemand ihn darauf hinweist. Herumtigern nennt man das, weil es daran erinnert, wie sich ein Raubtier in seinem Käfig herumwirft, unruhig, getrieben.
Können Blicke herumtigern?
Drake holte tief Luft, fasste in seine Jackentasche und holte sein Smartphone heraus. Er schien etwas zu suchen, denn immer wieder tippte er darauf herum, wischte über den kleinen Bildschirm. Dann, völlig unvermittelt, hielt er ihr das Handy hin.
Eigentlich wollte Biene gar nicht zugreifen. Sie wollte dieses fremde Ding nicht in ihren Händen halten, nicht auf das Display schauen, denn sie war sich sicher, dass das, was sie dort zu sehen bekäme, ihr nicht gefallen würde. Doch sie sah hin. Und dann wurde auch sie bleich.
Das Bild auf dem Display wurde einen Tag eher aufgenommen, in Drakes Atelier, das war eindeutig. Es zeigte eine Staffelei, auf der ein Bild steht. Ein Bild, das dem hier, in Bienes Atelier, bis auf den letzten Punkt glich, einschließlich der Tatsache, dass irgendetwas zu fehlen schien, um es wahrhaft perfekt zu machen.
„Das kann nicht sein.“ Biene schüttelte den Kopf. „Das kann einfach nicht sein!“
„Und doch ist es so.“ Drakes Stimme klang tonlos. „Hast du, nachdem du mit dem Bild soweit fertig warst, weitergeträumt?“
Biene stutzte. „Warum fragst du?“
„Hast du?“ Drake ging gar nicht auf ihre Frage ein.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Aber?“
Biene erinnerte sich. Sie hatte dem Bild nichts mehr hinzufügen können. Es sah fertig aus. Aber dennoch fehlte etwas. Irgendetwas, das sich ihr entzog, sorgte dafür, dass es immer noch wirkte, wie eines dieser Cartoonzeichnungen, die überall im Internet zu finden sind: Die Aussage dieser Bilder war zwar klar erkennbar, die Bilder an sich entbehrten jedwedem Charme, blieben seelenlos. Sie hatte beschlossen zu warten. Das Bild an die Seite zu stellen und es sich zu einem späteren Zeitpunkt anzusehen.
Von da an veränderten sich die Träume. Sie wurden übervölkert von Bienen. Bienen, in jeder Art und Weise: Gemalt, gezeichnet, modelliert, fotografiert, gefilmt. Mal hüpften sie als Cartoon-Bienchen über den Parkettboden, mal waren es Holzbienen, die als Mobile von der Altelierdecke baumelten, dann wieder flog ein ganzer Schwarm Bienen durch das Atelier – und alle zückten ihren Stachel, ließen einen Tropfen ihres Gifts auf ihre, Bienes, Malutensilien fallen. Auf die Pinsel, in die Farben, auf die Palette, die Spachtel, das Tuch, mit dem sie ihre Gerätschaften reinigte, nichts ließen sie aus. Am Ende der Träume flogen die mit Gift beträufelten Gegenstände auf ihre Staffelei zu, umkreisten sie, schüttelten sich und ließen dabei ihre Fracht auf das Bild, ihr Bild, fallen.
Die Botschaft erschien ihr ebenso klar wie verstörend. Doch wie sollte sie das Drake erklären? Sie sah ihn an und sein Gesichtsausdruck ließ ihre Zweifel verschwinden.
Sie erzählte es ihm, alles. Sie äußerte auch ihren Verdacht. „Anfangs dachte ich noch, dass da einfach noch Bienen auf dem Bild fehlen, und ich malte welche hinzu, wie du sehen kannst. Doch es änderte nichts. Das Bild sah immer noch so unfertig aus wie vorher. Deswegen kam mir der Gedanke, dass sie wollten, dass ich das Bild mit Bienengift überziehe. Doch wie komme ich daran?“ Biene seufzte, zeigte auf ihren Laptop. „Ich habe recherchiert, es ist höllisch teuer. Für ein paar Mililiter bezahlst du schon knapp 700 Euro. Dann veränderten sich die Träume. Die Bienen kamen über mich, und sie stachen mich in meine Fingerkuppen…“ Voller Grauen sah sie ihn an. „Aus meinen Fingerkuppen quoll Blut, Drake. Und jeder einzelne Tropfen flog auf die Leinwand zu.“
Drake nickte.
„Drachenblut“, sagte er. „Bei mir war es Drachenblut.“