Das Einschreiben
Die Frau Hamm ist alt geworden, sagen die Leute. Früher, als der alte Hamm noch lebte, war sie ein ganz anderer Mensch. Sie hat sehr nachgelassen, sagen die Leute. Seit sie keine Aufgabe mehr hat, hat sie den
Anschluss verpasst.
Jahrelang hat sie ihren kranken Mann gepflegt, und dann war es auf einmal aus. Es ist nicht mehr viel los mit der alten Hamm, sagen die Leute, aber bald sind wir auch an der Reihe. Es dauert nicht mehr lange, und dann liegen auch wir unter der Erde, wenn uns nicht zuvor die
Hyänen gefressen haben.
Dabei kann sie noch froh sein, meint die alte Frau Schmies, dass man sie nicht ins Altersheim gesteckt hat. Wer weiß, was unsere Kinder einmal mit uns machen, wenn wir nicht mehr so können. Wer weiß, ob sie uns dann noch zu Hause haben wollen.
Die Hamm hat ja auch nichts zu vererben, lacht der alte Herr Koll, sonst würden die sich schon mehr um ihr armes, altes, krankes Mütterlein bemühen.
Du tust denen Unrecht, Opa, widerspricht die Tochter des alten Herrn Koll, die haben auch viel um die Ohren, die lassen sich nicht von irgendeinem Erbe
blenden. Ihr Alten meint immer nur, es müsse sich alles um euch drehen. Opa hier und Opa da.
Strikt und unerbittlich. Wir haben auch unsere Sorgen.
Ja, ja, winkt der alte Herr Koll ab, ihr habt auch eure Sorge, ihr jungen Leute. Aber bald nicht mehr, bald habt ihr keine Sorgen mehr.
Er ist manchmal ein richtiger Griesgram, entschuldigt sich die Tochter bei der alten Frau Schmies, wenn er nichts mehr zu Nörgeln und zu Mosern hat, dann ist er unglücklich. Könnte man das Murren essen, dann wäre es sein
Lieblingsgericht.
• * *
Die alte Frau Hamm friert.
Den Kopf und die obere Partie der Schultern nach vorne gebeugt, schlurft sie zum Ofen hinüber, um ein paar Brikettstücke nachzulegen. Mit der Hand streicht sie über ihren Kittel, um den Kohlenstaub von den Fingern zu wischen.
Erschrocken zuckt sie zusammen, als es an der Haustür läutet.
Ein Einschreiben, sagt der Postbote, vom RWE. Sie müssen hier unterschreiben. Die alte Frau Hamm bittet ihn in die Küche. Ein Einschreiben? Für mich?
Warm haben Sie’s hier drinnen, sagt der Briefträger und reibt sich die Hände, schön warm. Das Wetter, lacht er, ist auch nicht mehr das, was es mal war. Nur Regen, im Frühling nur Regen, das ist alles andere als
reizvoll.
Ein Einschreiben?
Die alte Frau Hamm bittet den Briefträger, am Küchentisch Platz zu nehmen.
Ja, ein Einschreiben, sagt der Postbote, vom RWE. Haben wohl die Stromrechnung nicht bezahlt, was, und jetzt stellen Sie sich
unwissend, ha, ha, ha. Entschuldigen Sie, kleiner Scherz. Hier müssen Sie unterschreiben, ja, genau hier.
So, Frau Hamm, sagt der Briefträger und schaut dabei auf seine Armbanduhr, ich muss schon wieder weiter, es wird höchste Zeit.
Den Kopf und die obere Partie der Schultern nach vorne gebeugt, schlurft sie zur Anrichte, wo ihre Lesebrille in einer der Schubladen
hinterlegt ist.
„Wichtiger Inhalt, keine Werbung“, steht auf dem Umschlag des Briefes, und: „Falls verzogen, mit neuer Adresse an Absender zurück“.
Mit zittrigen Händen reißt sie den Umschlag auf.
„Sehr geehrter Kunde … machen wir Sie darauf aufmerksam … Ihr Gebührenkonto … 87,40 Euro … zuzüglich Mahngebühr von 2,10 Euro … sollte bis zum … kein Zahlungseingang … genötigt … Elektrizitätsversorgung auszuschließen …“ – Trotz der Brille verschwimmt die Schrift vor ihren Augen, Tränen tropfen auf das Papier.
Der Heinz, vielleicht kann der Heinz helfen? – Ach nein, der Heinz hat schon genug am Hals mit den drei kleinen Kindern, nein, ihren Sohn kann sie nicht fragen. Die jungen Leute, denkt die alte Frau Hamm, haben auch ihre Sorgen.
Mit erhobenem Kopf und nach hinten gedrückten Schultern steuert die alte Frau Hamm auf ihr Wohnzimmer zu, schreitet entschlossen zu dem Schrank, der noch von ihren Eltern stammt. Eine echte Antiquität, sagt der Heinz, wenn er an Weihnachten mit den Enkeln und seiner Hilde zu Besuch ist, sowas findet man heute nicht mehr.
Die alte Frau Hamm öffnet die oberste Schubladen, schiebt die drei Tafeln Schokolade für die Enkel zur Seite und auch die Bilder, die sie für „die liebe Oma“ gemalt haben. Alle hat sie aufgehoben, alle. Mit sicherem Griff greift sie nach dem silbernen Kästchen, der Schatulle, ihrem Hochzeitgeschenk. Die ist ein Vermögen wert, hatte ihr Mann damals gesagt, die Intarsien sind echte Halbedelsteine aus Idar-Oberstein. Nein, nicht die Schatulle. Nicht ihr Hochzeitsgeschenk.
Ohne näher hinzuschauen, nimmt die alte Frau Hamm schließlich den Schmuck aus dem Kästchen, stopft ihn in ihre Manteltasche.
Eine halbe Stunde später steht sie vor dem Schaufenster des neuen Geschäftes in der Stadt. An- und Verkauf. Tageshöchstpreise. Guten Tag, die Dame, wie darf ich Ihnen zu Diensten sein. Der Herr in dem neuen Geschäft ist sehr freundlich. Etwas jünger als ihr Heinz, vielleicht, sehr gepflegt, sehr höflich, alte Schule. Guten Tag, die Dame.
Der freundliche Herr betrachtet das kleine, silbrig glänzende und glitzernde Häufchen, das die Frau Hamm aus der Manteltasche gegriffen und auf den Tresen gelegt hat. Das hier brauche ich nicht mehr, sagt sie.
Er greift das größte Stück, eine silberne Brosche, betrachtet sie von allen Seiten mit einer Juwelierlupe. Ein sehr schöne, filigran gearbeitete Brosche, sagt der freundlich Herr, ein Erbstück?
Die alte Frau Hamm nickt. Sie lag nur herum, ich brauche sie nicht mehr, ich trage keinen Schmuck, in meinem Alter nicht mehr.
Eine sehr feine Arbeit, sagt der Herr und legt die Brosche auf eine Waage. Die ist bis auf ein tausendstel Gramm genau, lacht er, ein Präzisionsinstrument.
Leider, fügt er wenig später hinzu, ist die Brosche aus Silber, nicht aus Gold. Gold ist im Moment sehr teuer, sagt er, die Nachfrage nach Silber hingegen sehr gering. Trotzdem zahlen wir Tageshöchstpreise.
Das ist ja schön, entgegnet die alte Frau Hamm, die im Moment nicht so recht weiß, was sie sagen soll. Die Brosche, sagt der freundliche Herr schließlich, würde ich nehmen, den übrigen Schmuck nehmen sie wieder mit, der hat keinen Wiederverkaufswert.
Was ist die Brosche denn Wert, fragt die alte Frau Hamm, ich meine, sie ist ja sehr alt, aus dem 19. Jahrhundert.
Tja, antwortet der Händler und räuspert sich, der Materialwert läge bei 25 Euro, und ja, es ist eine sehr schöne, filigrane Arbeit, so dass ich Ihnen 40 Euro anbieten kann. Mehr ist nicht drin. Wie gesagt, es ist kein Gold.
Es dauert einige Minuten, bis die alte Frau Hamm ihre Sprache wiedergefunden hat. Ich hatte, sagt sie schließlich mit ruhiger Stimme, nicht mit mehr gerechnet. Sie lag ja nur herum.
Den Kopf und die obere Partie der Schultern nach vorne gebeugt, schlurft die alte Frau Hamm nach Hause.
Die Schatulle holen.
Das Hochzeitsgeschenk.
• * *
Kaum hat der Herr Bell am Abend die Wohnungstür hinter sich geschlossen, wird er auch schon von seiner Frau in Beschlag genommen.
Augen zu, sagt sie mit geheimnisvoll verführerischem Unterton, dabei hat er nicht einmal die Schuhe ausgezogen und seine Jacke an die Garderobe gehängt. Herr Bell seufzt, als ihn seine Frau ins Wohnzimmer dirigiert und sanft in den Sessel schubst. Und ja nicht schummeln, sagt sie, schön die Augen geschlossen halten, bis ich es dir gestatte.
Herr Bell weiß, dass es keinen Sinn haben würde, gegen diese sicherlich aus kindlicher Freude und Liebe motivierte Attacke zu opponieren.
Und?
Was und?
Fällt dir nichts an mir auf?
Nein. Was sollte mir auffallen?
Du kennst doch das neue Schmuckgeschäft in der Stadt, sagt Frau Bell, dieses neue Lokal mit An- und Verkauf …
Noch ehe sie den Satz zu Ende führen kann, ist ihrem Mann der Schrecken in die Glieder gefahren. Bist du wahnsinnig, oder haben wir im Lotto gewonnen?
Beruhige dich, entgegnet Frau Bell, du wirst aber nie darauf kommen, was diese über 150 Jahre alte Brosche gekostet hat.
100 Euro? Herr Bell schätzt vorsichtig.
Eine derart wunderschöne Antiquität für 100 Euro?, säuselt seine Frau, nie im Leben! Aber ehe du noch blasser wirst: Nicht mal 90 Euro, exakt 89,50 Euro. Ist das nicht der Wahnsinn?
89,50 Euro? – Bist du sicher?
Absolut. Da musste ich doch zugreifen, oder was meinst du?
Ja, das musstest du.
Ehe es ein anderer getan hätte.
© Mercurio13