Der Fisch
Ein derartiges Schauspiel hatte sich noch nie vor aller Augen abgespielt. In furiosem Wechselspiel formierten sich wahre Welten aus den von Sturm und Hagelschlag getriebenen Wolken, in denen jeder etwas anderes gesehen haben wollte.
„Da, Hitler!“, schrie Herr Santroph, den alle ob seiner mitunter bärbeißigen, griesgrämigen Art wortspielerisch nur „Mi“ nannten, wobei Frau
Makula, seine in aller Augen als leicht degeniert geltende Lebensgefährtin, die Sekunden der Wahrnehmung als schlechte, weil leicht unscharfe Kopie einer Filmszene mit Charlie-Chaplin deutete. Noch ehe sich das Paar einigen konnte, waren längst Goethe, Willy Brandt und Franz Beckenbauer über und durch den Himmel gestoben, darin waren sich alle einig, während einige das Ganze eher abstrakt als
vage Andeutung eines in Bälde bevorstehenden apokalyptischen Ereignisses deuten mochten. „Das ist“, sagte Herr Poll mit bedächtig-sonorem Akzent, der unschwer seine Abstammung aus dem ostmünsterländischen Teil der
Lippe erkennen ließ, „die ungewisse Gegenwart des Kommenden.“
Viel sagte Herr Poll nie, aber wenn er etwas sagte, dann hielten alle inne, ja, selbst der Donner versagte für einen Moment den am Horizont tanzenden Blitzen die Gefolgschaft.
„Die ungewisse Gegenwart des Kommenden.“ – Ja, das hatte Herr Poll gesagt, an diesem Abend, als alle dieses grandios-schauerliche Himmelsschauspiel beobachteten und sich mit ihren unterschiedlichen Wahrnehmungen nachgerade zu übertrumpfen suchten. „Besser ein Fisch in der Pfanne als ein
Spatz in der Hand“, scherzte Frau Makula, die leicht degenerierte, wohl auch, weil sie Herrn Polls von ihrem Lebensgefährten stets als tief philosophisch gepriesenen Betrachtungen nie so recht verstand.
„Wir erwarten etwas, von dem wir nicht wissen, was es sein wird“, ergänzte Herr Poll seine Aussage von vorhin, wohl sehend, dass sein Postulat eine gewisse Verunsicherung in Frau Makulas Gesichtszügen hinterlassen hatte. „Die Welt ist aus den Fugen.“ – Damit hatte er sich fast ausufernder Geschwätzigkeit hingegeben, beinahe so, wie ein hundertjähriges Hochwasserereignis an der Lippe.
Als der Sturm noch weiter zunahm, wollten einige sogar Trump und Johnson an ihren Frisuren erkannt haben, ignorierend, dass der junge Herr Bell dieses Phänomen den unbändigen Höhenwinden zuschrieb, wie auch das etwas wirre Haupthaar Beethovens, der gerade „Für Elise“ spielte, aber dem erneut aufkommenden Groll des Donners wenig entgegenzusetzen hatte.
Gigantische Papyri entrollten sich aus den mittlerweile giftig-gelben Wolken, die fern am Horizont zunehmend die nur noch sporadisch von Blitzen durchzuckte Kulisse dominierten, Schriftrollen aus dem alten Ägypten mit Zeichen, die Frau Makula selbst mit einer
Lupe nicht hätte lesen können.
„Das Königreich des vollkommenen Friedens“, sinnierte Frau Hübsch, dieses
Aas aus der Parallelstraße, nachdem sie Herrn Santroph – unbeabsichtigt, wie sie beteuerte – beim Zurückweichen vor dieser Lichtgestalt Beckenbauer auf die Füße gestiegen war. Und das mit ihren hochhackigen Stöckelschuhen, deren Pfennigabsätze selbst altes Leder
mürbe zu wirken vermögen. Herr Santroph versagte seinem Schmerz die Artikulation, wohl meinend, dass nicht er derartige Pein verdient hätte, sondern alle anderen in dieser tumben Masse, die ihm seine Wahrnehmung, ja Gewissheit, Hitler erkannt zu haben, in Abrede stellen wollten.
Wie war das? Ja, Nacht und Tag, Finsternis und Licht, Krieg und Frieden, Geburt und Tod folgten in dieser Welt, die sie alle kannten, endlos aufeinander, bedingten einander, obwohl sie doch miteinander vollkommen unvereinbar waren. Das hatte bereits im 13. Jahrhundert der berühmte persische Dichter und Mystiker Dschalal ad-Din Rumi erkannt und in seiner Allegorie vom Hasen und vom Löwen zum Ausdruck gebracht. Königreich des vollkommenen Friedens nannte Rumi diese seine göttliche Welt – genau, wie vorhin Frau Hübsch, deren Schuhe nun so ganz und gar nicht in die Welt der mittelalterlichen Mystik zu passen schienen.
Doch diesmal geriet alles anders. Kein Löwe zeigte sich am Himmel, kein Ohr eines Hasens lugte aus dem gerade sprießenden Farn des allmählich auch wieder als solchen erkennbaren nahen Waldsaums. Saftig grüner
Farn, der sich in seiner Trichterstruktur zu wahrer Größe entrollte, gleichsam als Gegenentwurf zu den verblassenden Schriftrollen, den altägyptischen Papyri, deren Botschaft beim besten Willen nicht zu erfassen war. Kein Löwe und kein Hase in Sicht, nicht einmal ein Igel, der als heimisches Säugetier sicherlich die Rolle des Löwen gerne übernommen hätte … Nein!
Wie aus dem Nichts erhob er sich aus dem Wald, bedrohlich in seiner gigantischen Gestalt, doch so vulnerabel in seinem Ausdruck, ja tief verletzt, traurig, Herrn Polls Orakel bestätigend.
Der Fisch!
Der Fisch, der aus den Wäldern stieg, hoch hinauf, um dann - den Menschen einen letzten waidwunden Blick widmend – hinter dem Meer zu versinken. Ja, hinter dem Meer, dort, wo seinerzeit Rumis Zeitgenossen des Abendlandes die Ozeane in die Tiefe stürzen sahen, das Ende der Welt.
Fasziniert und schockiert zugleich und dabei einträchtig stumm verfolgten sie den Lauf des Fisches.
Der Fisch, der seinen Lebensraum verlassen hatte.
Der Fisch, der ohne Wasser nicht leben kann.
Später, erst viel später, würden sie sich gegenseitig in Schuldzuweisungen ergehen, würden sich gegenseitig bezichtigen, das Verschwinden des Fisches verantworten zu müssen.
„Ja, die Welt ist aus den Fugen“, sagte Herr Poll.
Wenigstens hatten sie den Fisch alle noch gesehen. Hatten dieses einzigartige Schauspiel erlebt, das sich niemals wiederholen würde.
© Mercurio13