Die Prüfung (nach einer wahren Begebenheit)
Frau Dr. Lübke geht langsam durch unseren Kursraum und teilt die Prüfungsfragen aus. Vor mir steht mein Kaffee, ein Schokoriegel und sämtliche Spicker im Mäppchen eingepflegt. Bevor sie die linierten Blätter austeilt, sollen wir uns die Fragen genau durchlesen. Mir schaudert es. Bis heute morgen habe ich durchgelernt. Als ein Spatz dann um 5.45 am Fensterbrett empört rein blickte, legte ich mich nochmal kurz hin.
Ohh neeee. Trotz Brille bräuchte ich eine Lupe um diese Schrift zu lesen. Frau Dr. Lübke spart immer so gerne Papier und presst alle 28 Prüfungsfragen in einer 8 pt großen Schrift auf ein DIN A4 Blatt.
Ich schau zu Jonathan rüber. Er ist kreidebleich, denn er steht in Medizin auf 4,5. Auch er ist vom vielen Lernen schon ganz mürbe.
Die hübsche Laura macht es sich wieder leicht. War ja klar. Alle ihre Spicker hat sie unterhalb ihrer Tischplatte befestigt. Bisher ist sie mit dieser Tour noch nie aufgeflogen, setzt sie doch immer im rechten Moment gekonnt ihre Reize oder ihren Unschulds-Charme ein. Insgeheim wünsche ich mir, dass unsere Medizin Dozentin sie mal schön auflaufen lässt.
Ich nehm einen Schluck Kaffee, beiß mir auf die Lippe und werfe einen scharfen Blick zu Jenny rüber. Sei fährt sich gelangweilt und siegessicher durchs lange blond gefärbte Haar.
Aufbau, Funktion und Erkrankungen der Leber ist das umfangreichste Thema. Daniel, Jessica und ich haben alles über das Leber-Thema, auf kleine Zettel geschrieben und im Blumenkasten in die Hydrokultur eingebuddelt. Darüber wuchert schützend ein riesen Farn.
Die Pflanze steht im Gang rechts neben der Toilette und wer muss, der kann.
Wir haben alle außer Helene eingeweiht. Sogar Jenny wüsste sich im „Leber – Notfall“ zu helfen, so fair sind wir dann doch. Seit Helene in unserem Kurs ist, werden die Toiletten vor jeder Prüfung durchsucht. Sie ist das Klischee einer gänzlich unsympathischen Lehrers Tochter. Man glaubt es nicht, aber sie hat eifrig unsere Verstecke für die Spickzettelchen auf dem Klo abfotografiert und dem Schulleiter gezeigt.
Als ich die Frage zum Hauptthema lese, bleibt mir der Kaffee im Hals stecken. Die Hauptfrage erstreckt sich über Aufbau, Funktion und Erkrankungen des … Auges???
Verdammt. Die ganze Leber Geschichte im Blumenkasten war für´n Arsch.
Gestresste Blicke huschen durch den Kursraum. Warum? Die Frau hat uns tagelang über die Leber belehrt und nun kommt sie uns mit dem Auge? Wir müssen nun gnadenlos die Anatomie des Augapfels benennen und alle Fragen zum „grünen und grauen Star“ beantworten. Ich habe von all dem nur eine vage Ahnung, weil ich das Thema „Auge“ nur überflogen habe. Es hilft nichts, da muss ich durch.
Ich beiß in meinen Schokoriegel und hoffe auf eine Eingebung. Helene starrt gerade aus zur Tafel und nestelt nervös an ihren Stiften herum. Haha!! Scheinbar hat es sie auch eiskalt erwischt. Jessica zwinkert mir zu, mit einem schrägen Blick auf Helene, die olle Petze. Ich proste Jessica mit meinem Kaffee zu. Dass muss für diesen Moment gefeiert werden.
„So ein Spicker hinterm Spiegel im Waschraum wär schon was Feines, wa??…“ würde ich ihr jetzt am liebsten zu rufen.
Die erste Frage ist leicht, aber ich seh schon wie bei Jonathan der Schweiß ausbricht.
Frage 1 Welcher Begriff wird für den sogenannten „gelben Fleck“ verwendet.
Jonathan schaut mich fragend an. Ich mache ihm ein Zeichen für 1, um sicher zu gehen dass er an der ersten Frage hängen geblieben ist. Er nickt. Ich forme mit meinen Mund deutlich das Wort M A K U L A.
Man sieht nun richtig wie bei ihm die Lichter angehen. Fein! Er ist nun voll dabei und schreibt wie ein Weltmeister. Alles was er weiß, rattert er mit seinem abgekauten Pelikan Füller auf das Blatt Papier. Ich wünsche ihm so sehr dass er die Prüfung nicht verhaut, sonst wird er nicht zur Abschluß Prüfung zugelassen. Drei Jahre Pflegeausbildung wäre damit umsonst gewesen.
Immerhin, eine Frage zu Hepatitis C im zweiten Abschnitt. Die kann ich beantworten.
Die nächsten Fragen zu Medikamenten schaffe ich auch noch bis auf…
„Thrombozytenaggregationshemmer“ war dass nicht das mit dem Aspririn? Als Frau Doktor an mir vorbei gegangen ist, schau ich in meiner Spicker Sammlung nach. Wow super!
„17. Beschreiben sie kurz die Virchowsche Trias…“
Hahahaha next please
18. 19. 20. ….
Zack ich bin fast durch.
Zurück zu Frage 17. Hmmmm überlege „Virchowsche Trias“… spicke ins Mäppchen und sehe unterm grünen Edding meine drei Stichpunkte dazu.
Ich schreibe und schreibe. Dann höre ich wie ein Klebeband mit laut krätzigen Geräusch von einer Oberfläche gezogen wird. Jenny! Oh nein. Jetzt tut sie mir doch leid. Dr. Lübke hat sie erwischt und ihr ganz langsam den angeklebten zweiten Boden für ihre Spicker abgerissen. Heulend verlässt die arme Jenny das Zimmer.
Die Arme... Ich reiß mich zusammen und beantworte die letzte Frage.
Fertig. Als ich mich umsehe bin nur noch ich und die kleine Pia im Kursraum. Alle anderen sind raus zum Rauchen oder in die Pause gegangen. Die arme Pia. Sie ist Legasthenikerin und darf natürlich länger als die anderen an ihren Fragen arbeiten. Aber ich sehe wie nervös und verkrampft sie ist. Frau Doktor umkreißt sie wie ein Adler ein Aas, in der Hoffnung nochmals so einen Coup zu landen wie bei Jennys Spicker. Dabei wäre Pia die Letzte die es sich trauen würde einen Spicker an ihrem Platz zu haben. Ich glaube, sie würde sich nicht mal an die Zettel im Blumenkasten ran gehen.
Ich packe meine Sachen und gehe zum Pult. Dort lege ich meine Prüfung hin. Die strenge Ärztin kommt im Stechschritt zu mir, so als ob ich im letzten Moment noch was abschreiben könne.
Dann verwickele ich sie in ein Gespräch über Epilepsie. Neurologie kam heut zwar nicht dran, ist aber ihr Steckenpferd. Frau Doktors Laune hellt auf und sie beginnt mir nochmal haarklein im Flüsterton zu erklären was der Unterschied zwischen einem fokalen und generalisierten Anfall ist.
Pia atmet auf und nimmt eine bequeme Haltung ein. Sie schreibt langsam beseelt ihre letzten Sätze zu Ende.
(Es wurden alle Schüler zur Prüfung zu gelassen. Auch „Jonathan“. „Jessica“ und „Daniel“ sind durchgefallen. In Heilpädagogik.)