Der alte Grieche
Noch ein bisschen nach vorne, dann leg ich den Rückwärtsgang ein und setz nochmal vorsichtig zurück.
Erst als ich mit der Stoßstange dem Wagen hinter mir einen kleinen Schubser verpasse, steh ich endlich in einer engen Parklücke in der Kaiserstraße.
Eilig, mit einer Verspätung von guten 10 Minuten, betrete ich das Café „Ludwig & Otto“.
Schnurstracks gehe ich an der Bar vorbei ins Büro und verstaue dort meine Sachen. Ich lege hastig meine schwarze Kellner-Schürze an und werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel.
Autsch.
Die 4 Zentimeter lange Narbe über meinem Schlüsselbein verheilt, aber noch gut sichtbar.
Letzte Woche hatte ich mitten in der Nacht diesen blöden Unfall. Ich kam ich völlig ausgelaugt von der Arbeit. Als ich gegen 3 Uhr aufstand, um aufs Klo zu gehen, wurde mir schwarz vor Augen. Die Ikea-Kommode fing mich zwar auf, hinterließ dafür aber ein blutiges Denkmal. Eine böse Geschichte.
Ich verdecke die Narbe mit einem Seidenschal, ehe ich die Bar betrete und mich an der Kasse anmelde. Die große Uhr über der Eingangstür zeigt 17.15 und unser Stammgast, ein alter freundlicher Grieche, sitzt schon völlig trunken am Tresen.
„Darf's no a Helles sein?“, frag ich ihn freundlich. Er kommt ins Zaudern. Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortet er mit griechischem Akzent: „Nein, meine Liebe, ich zahle.“ Während er umständlich sein Geld aus seiner Geldbörse kramt, fällt mir zum ersten Mal auf, dass unter der schweren Eichenholzplatte der Theke eine Unregelmäßigkeit im Mauerwerk zu erkennen ist.
Ich beuge mich runter und tatsächlich, es sind noch dorisch anmutende Säulen eingelassen. Sie erzählen, dass dieses Lokal vermutlich früher eine griechische Taverne war.
Mein Lieblingsstammgast bestätigt meine Annahme, und fängt an mir diese traurige Geschichte über die vorherige Gaststätte in diesen Räumen, zu erzählen.
Tatsächlich war dieses Café früher ein griechisches Restaurant, in dem er seit 1987 gekellnert hatte. Das „Afitos“ war jeden Abend ausgebucht, und es ging hier um einiges lockerer und lustiger zu als jetzt und hier.
Die Wirtin war gutherzig und als ihr Mann sie für eine andere verließ, musste sie alles allein stemmen. Irgendwann ging es nicht mehr. Die Mieten schossen nach oben, und sie konnte die Pacht nicht zahlen. Er verlor seine Arbeit und jetzt ist er längst zu alt, um noch eine neue Stelle zu bekommen.
Ein trauriges Ende.
Nun hat sich hier die Münchner Kaffeehauskette „Ludwig & Otto“ eingemietet. Ein Café gleicht dem anderen.
Er verabschiedet sich von mir und legt mir noch 2 Euro Trinkgeld auf den Bierdeckel. „Vergelt‘ s Gott!“, ruf ich hinter ihm her. Im Gehen antwortet er: „vergiss nicht dein Besteck zu polieren!“.
Er hat Recht, es ist Zeit das Besteck zu polieren. Der Behälter voll mit Messer, Löffel und Gabeln in heißem Essigwasser steht schon länger hinterm Tresen. Ich schnappe mir ein frisches Geschirrtuch und fische nach ein paar Messer.
Meine Kollegin Steffi zieht mich beiseite, als ich mich an die Arbeit mache. Ich solle zum Gast an Tisch 17 gehen. Er sitzt heute ausnahmsweise in meinem Servicebereich.
Dass muss sie maßlos ärgern, denke ich, als ich in mich hineinlächle.
Dieser Gast ist einer der bekanntesten Schauspieler hier in München, der für gewöhnlich immer an dem eher versteckt liegenden Tisch 20 sitzt.
Steffi erscheint mittwochs immer eine halbe Stunde früher, damit sie sich auch wirklich Tisch 20 einteilen kann. Meine junge Kollegin sieht in diesem illustren Mittwochs-Gast ein Karriere-Sprungbrett. Sie studiert Dokumentarfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen, und es ist lustig zu sehen, wie sehr sie sich jedes Mal anbiedert, während er pausenlos in sein Handy starrt.
Tisch 20 ist jedoch heute schon besetzt von einer Mutter und ihrem etwa achtjährigen Jungen. Er fängt an zu bocken, als er sein iPad weglegen soll. Steffi stellt ihm sichtlich genervt einen Teller mit Kinderschnitzel und Pommes vor die Nase.
Nachdem ich in aller Ruhe eine Handvoll Messer weg poliert habe, schnappe ich mir eine Speisekarte und steuere auf den „wichtigen“ Tisch zu. Steffi packt mich gerade noch am Handgelenk und möchte offensichtlich Schlimmeres verhindern. Im Flüsterton belehrt sie mich, dass dieser Gast ein wichtiger Promi sei. Quasi unser Aushängeschild, da er unser Stammgast ist. „Egal was er bestellt, er bekommt es!“.
„Natürlich“, antworte ich und gehe rüber zu ihm.
„Bittschön die Karte. Darf ich Ihnen schon was zum Trinken bringen?“ Ohne von seinem Handy aufzuschauen, nuschelt er „das Übliche“.
„Sehr gerne,“ antworte ich.
„Das Übliche für den Herrn an Tisch 17“, gebe ich an Steffi weiter. Das „Übliche“ kennt nur Steffi, und sie legt auch gleich los.
Eifrig bereitet sie einen Kaffee vor. Ganz so, als sei das ihr großes Geheimnis, dreht sie mir den Rücken zu, als sie mit einigen Spirituosenflaschen hantiert und die Tasse damit füllt. Das Ganze krönt sie noch mit einer ordentlichen Portion Milchschaum, ehe sie mir mit strenger Mine die Tasse auf einem kleinen Tablett in die Hände drückt.
Ich trage das enigmatische Heißgetränk mit viel zu viel Alkohol zu unserem Filmstar aus dem jüngsten Kinofilm.
„Bittschön, das Übliche.“