Stereotypisches Thekenmännergespräch (Part 33)
Primzahl-Saufen
Unglaublich. Ich konnte mich noch selbst überraschen. Nach meinem Bandscheiben-Zwischenfall in Helgas Kneipe legte ich tatsächlich eine Pause ein. Eine aktive Pause. Ich ging zum Sport, ich ging nicht mehr Saufen, ich ging dafür spazieren. Gerne auch mit Paula, die mir eine treue Gefährtin wurde. Ich fühlte nicht mehr das Brennen, welches durch erotische Phantasien befeuert wurde. Nicht lange her, dass ich einen Schlag ins Gesicht kassierte, nur weil ich sie küsste. Oder Konkurrenten abservierte, die zu nah an ihre Seite rückten. Sanft wie ein Reh wanderte ich mit ihr durch den Herbst. Wir diskutierten über den Klimawandel oder redeten von alten Zeiten, als wir damals als Punks auf Hippiefesten das Geld für eine Linsensuppe zusammen schnorrten. Wir besuchten gemeinsam Vernissagen, Museen und Konzerte.
Regelmäßiges Training ließ mich meine Muskeln spüren. Ich wurde nicht innerhalb eines halben Jahres zum Adonis, aber es fühlte sich spannend an, plötzlich Muskeln zu spüren, über die man früher nie nachdachte. Der Schluckmuskel ist eben doch nicht der einzige Muskel, der für einen Mann in meinem Alter, ohne Beziehung und sexuelle Eroberungen, von Bedeutung ist. Der gestärkte Rücken hielt mich auf dem Sitz vor dem PC, ohne mich in schmerzhafte Stellungen zurück schrumpfen zu lassen. Ein paar Kisten Wasser zur Wohnung hoch schleppen? Kein Problem.
Dabei lebte ich gesund. Ich war fast auf der Spitze des Turms der Askese. Bier gab es keines mehr in meinem Haushalt, ich ernährte mich von Gemüse, Bio-Käse und Öko-Fisch. Die Zeiten in Helgas Kneipe hatte ich fast vergessen …
… aber nur fast. Kneipenkumpels sind scheiße. Sie rufen dich nicht an, wenn du über lange Zeit nicht an der Theke erscheinst. Das unsichtbare Seil des Alkoholismus verbindet dich, aber es bindet nicht. Ich weiß es, trotzdem vermisse ich sie. Alle. Ich hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes wieder eingerenkt, konnte wieder gerade gehen, hatte eine lange Phase der Abstinenz hinter mir. Also warum nicht mal wieder zu Helga, da gerade zu Halloween sicher einiges passieren wird? Es muss ja nicht wieder zum Alltag werden, oder?
Ich bin ja sowieso ein kritischer Trinker. Darüber hatte ich eine lange Diskussion mit Paula während einem unserer ausgiebigen Herbstspaziergänge. Es gibt blödes Trinken mit der dumpfen Masse, nur um in Einklang zu sein mit Menschen, die Kritik nicht vertragen und schließlich die AfD wählen. Oder es gibt kritisches Trinken, weil man nie das Gefühl hatte, in der Gesellschaft angekommen zu sein und im Suff zu höherem Denken gelangt, welches einem die Unterschiede klar macht zwischen der Katze, die fallenden Blättern im Herbst nachjagt und dem Fotografen, der mit seinem Autofocus die kritischen Punkte auf den Punkt bringt. Charles Bukowski lässt grüßen.
Wie auch immer, ich wollte mir mal wieder einen Abend in Helgas Kneipe gönnen. Das wird mich ja wohl nicht aus der eingeschlagenen Bahn des neuerdings topfitten Peters bringen, der Körper und Geist pflegt und endlich weiß, wo der Hase läuft. Zufrieden und voller Erwartung auf ein großes „Hallo“ betrat ich Helgas Kneipe. Die Enttäuschung traf mich auf den Punkt wie ein Schlag in die Magengrube. Keiner da. Die Theke leer. Nicht mal der stumme Olli hockte in seiner Ecke. Helga begrüßte mich herzlich:
„Peter, lange nicht gesehen. Gut siehst du aus“.
„Danke Helga. Sag mal, wo sind die alle?“
„Irgend so ein Halloween-Fest in der Stadt. Die haben sich organisiert. Fahren zusammen mit Taxi und so. Hast du wohl verpasst.“
„Scheint so, als ob ich so einiges verpasst habe. Mach mir ein Weizen!“
Ich nahm Platz an der Theke. Ganz für mich alleine. Ein wenig Smalltalk mit Helga, der besten Wirtin der Welt. Doch ich blieb nicht lange allein. Drei junge Männer traten ein, schüttelten ihre regennassen Jacken ab und hängten sie an die Garderobe. Ich war ja schon beim zweiten Bier und hatte nicht bemerkt, wie draußen der Regen einsetzte.
Einer der jungen Kerle mit keckem Gesicht und einem Ziegenbart wandte sich direkt an mich:
„Die Theke ist doch frei, oder?“
„Klar“, antwortete ich aufgeschlossen, „aber sagt mal, aus welcher Nasszelle kommt ihr denn?“
„Wir kommen aus dem benachbarten Hessen und sind hier als Mathematiker unterwegs. Studienarbeit.“
„Genau“, mischte sich ein weiterer Typ, bartlos und mit schmaler, eckiger Brille, ein: „Soziale Kompetenz von Ackerflächen in Ambivalenz zu neu errichteten Gewerbegebieten und die damit einhergehende, manisch-depressive Verstimmung von Landwirten.“
„Äh, so etwas gibt es?“ fragte ich überrascht und skeptisch.
„Nein, gibt es eigentlich nicht“, amüsierte sich der Ziegenbart schmunzelnd,
„aber das war eine unserer Schnapsideen beim Primzahl-Saufen an der Uni.“
Der dritte im Bund der unheimlichen Mathematiker schaltete sich ein. Unauffälliger Typ mit Sommersprossen und leuchtend roten Haaren:
„Aber wir werden eine Formel finden, mit der sich das berechnen lässt. Das ist unsere Team-Studien-Arbeit.“
„Was es alles gibt“, meinte ich gelassen, „und was macht ihr dann hier?“
„Wir führen Interviews, holen Daten ein, gehen von Haus zu Haus und sammeln Information“, grinste die Brille. „Später machen wir uns dann Gedanken, wie wir eine Formel dafür basteln können.“
Inzwischen hatte Helga jedem der jungen Kerle ein Pils vor die Nase gestellt.
„Na dann viel Erfolg!“ prostete ich ihnen zu. „Aber sagt mal, was ist Primzahl-Saufen?“
Die drei Jünglinge lachten ein gemeinsames Altherrenlachen. Der Ziegenbart begann zuerst mit der Erklärung:
„Mathematiker trinken mathematisch. Mit Logik, auch wenn die Logik für Primzahlen nie gefunden wurde. Aber die Logik des Trinkens haben wir begriffen. Das geht so: Wer vor der nächsten Primzahl zuletzt sein Glas leert, muss die Primzahlrunde ausgeben. Egal ob Bier oder Schnaps, jedes Getränk zählt. Die Eins gilt natürlich nicht, ist ja keine Primzahl. Wer aber nach dem zweiten Getränk zuletzt absetzt, zahlt Getränkerunde Drei. Danach kommt die Fünf, die Sieben, die Elf, die Dreizehn, die Siebzehn und so weiter. Aber so weit kommt man kaum. Wichtig ist, bei einer der Primzahlen aufzuhören.“
„Klingt gut“, freute ich mich, „ich habe schon Zwei, ich lasse Euch aber gerne aufholen, dann sehen wir weiter!“
Lachend nahmen die jungen Männer mein Angebot ein. Sie holten schnell auf. Allerdings hatte ich unterschätzt, welches Trinktempo sie an den Tag legten. Für mich konnte da nach langer Pause ganz schnell Nacht werden. Wie auch immer: Ich zahlte die Runde Drei.
„Vier Ramazotti, Helga!“ bestellte ich dienstbeflissen.
„Ich bin übrigens der Peter“, reichte ich dem Ziegenbart neben mir die Hand.
„Angenehm, Niklas. Der neben mir mit der Brille ist Xaver, den Rotschopf nennen wir nur Joffrey.“
„Ein Brite?“, fragte ich angesichts der rötlichen Erscheinung des sanften Jünglings.
„Nein. Joffrey Baratheon aus Games of Thrones. Er heißt eigentlich Jens und ist ein hartnäckiger Fan der Serie.“
Ich hatte keine Ahnung, was Games of Thrones bedeutet, nuschelte nur „na dann“ und hatte Glück, dass Joffrey bereits etwas zögerlich wurde und die Primzahl Fünf finanzieren musste.
Meine Kopf begann bei Sieben zu dröhnen und ich hörte allerlei verrückt klingenden Theorien zu, von denen ich nur wenig verstand. Da wurde heftig diskutiert über einen Herrn Mochizuki und die abc-Vermutung. Dass die Primzahl ein Jahrhunderte altes Mysterium ist, welches nie wirklich gelöst wurde. Formeln flogen mir um die Ohren wie „a + b = c“, Aussagen über teilerfremde Zahlen, natürliche Zahlen und das vertrackte Addieren von Primzahlen. Chaos in allen Theorien und wie viel Chaos im täglichen Leben anhand von Primzahlen wohl so vorkam.
„Die Primzahl braucht einen Wagenheber“, tönte ich schließlich dazwischen, „denn auf drei Rädern kann ein Wagen nicht fahren“.
„Genau so ist es, das Chaos herrscht überall“, prostete mir Niklas zu, „sehr kluger Einwurf!“.
Er dachte einen Moment darüber nach, während alle anderen, inklusive mir, die geleerten Gläser abstellten.
„Mist, verpasst. Ok, ich zahle die Elf. Was darf es diesmal sein?“
„E-ee-eegal“, blökte ich mit erhobenem Glas in die Runde. „Spätestens bei der Dreizehn steige ich sowieso aus.“
Diese jungen Studenten. Faszinierend, aber auch ermüdend. Die saufen eine alte Bartante wie mich, zumal voll aus dem Training, glatt unter den Tisch. Nach der Neunzehn ging ich endlich nach Hause, überrascht über die hohe Rechnung, die Helga zu zahlen hatte. Wobei die Schritte auf dem Heimweg eher einer Abfolge von Primzahlen glichen. Und ich wusste genau:
Ich würde zwei Tage schlafen können, mich erst am dritten Tag halbwegs nüchtern fühlen, am fünften Tag wieder vollumfängliche Geschmacksnerven mein eigen nennen dürfen und frühestens am siebten Tag darüber nachdenken, jemals wieder zu Helga in die Kneipe zu gehen.
Primzahlen beherrschen die Welt!
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Nach langer Gruppen-Abstinenz von mir eine Geschichte von meinem 8-Worte-Peter, der nach langer Abstinenz mal wieder ausgeht.
Ich habe gleich die letzten 16 Wörter eingebaut.
Wer es noch nicht kennt, das Ganze ist als Serie im 8-Worte-Spiel entstanden, alle Storys finden sich hier:
Homepage "Kurzgeschichten" von impotentia