Die Zeit vergeht
Myriaden von Mauersegeln flogen über ihren Köpfen. Lilianes Blick blieb sofort von ihnen gefangen, als sie sie entdeckte.
"Wir können gerne hier draußen stehen bleiben und die Vögel beobachten."
Die charmante Stimme des älteren Herrn hinter ihr riss sie in die Wirklichkeit zurück. Ein Handschlag, wie seit Jahrzehnten zur Begrüßung üblich, musste ausfallen.
Lachend folgte sie dem Mann trotzdem in sein Geschäft. Seit ihrem letzten Aufenthalt hier hatten sich die Auslagen sichtbar geleert. Lilianes Gatte, der nach ihr eintrat, rief sie zu einem Schaukasten zurück.
"Siehst Du, die habe ich gemeint!"
Er wies auf eine alte griechische Münze, die von einer Fassung aus getriebenem Gold gehalten wurde. Ein zierlicher Delfin bildete die Schlaufe für eine fein gearbeitete Kette. Ein bisschen Wehmut klang in seiner Stimme. Der Grund dafür schien das kleine Schild in der Vitrine zu sein. Kein Preis war darauf zu lesen, nein, ein dickes "Verkauft" stand darauf.
Mit dem Schild war auch ihr Interesse auf null gesunken. Was es nicht zu kaufen gab, strich sie aus ihrem Gedächtnis. Auf der anderen Seite lagen zwei schlichte Ringe ausgelegt. Der eine aus historischem Elfenbein, der andere aus Gold, der Farbe nach zu urteilen in über 900er Legierung. Jeder einzelne Schlag des Schmiedehammers hatte sich darin verewigt. Vor knapp 30 Jahren hatte er es ihnen vorgeführt, bei ihren Eheringen. In der Schmelze war durch die Beigabe von anderen Metallen für ihn ein roséfarbener Rohring entstanden. Ihr Exemplar hatte genau die Farbe wie das Schmuckstück in der Auslage erhalten.
"Wollen Sie sehen, wie ich den Ring treibe?", hatte der Goldschmied gefragt.
Damals noch eine ganz junge Frau, hatte sie die gezielten Schläge fasziniert verfolgt. Aus der echten Ringform wurde außen ein angedeutetes Quadrat. Diese Ringe würden nur sie haben. Sie sollten dafür stehen, dass das gemeinsame Leben vollkommen werden sollte, auch wenn es Ecken oder Kanten geben würde.
War es so gekommen? Die letzten Jahre überwogen die Ecken und Stolpersteine bei weitem.
Beim letzten Besuch hatte der Goldschmied sein Designbuch mitgebracht, in dem er alle Aufträge festhielt. Er hatte zurückgeblättert in das Jahr 1990. Mit wenigen Strichen hatte er damals die zwei Ringe skizziert, die unterschiedlichen Farben angedeutet. An ihren jungen Händen fanden sie das richtige Maß. Heute wirkten sie viel unscheinbarer, obwohl sie vor ein paar Jahren nachträglich etwas verändert wurden. Der einzige Ring, den sie trug. Bis auf den an der Kette ihrer Mutter. Aber der hatte eine andere Symbolik.
Er bot ihnen die üblichen Plätze an und schnell fingen die Männer an, sich gegenseitig zu frotzeln. Lilianes Mann warf ein eingeschweißtes Goldstück auf den schmalen Tisch. Kurzes Schweigen. Sie mochte solche protzigen Gesten nicht. Der Goldschmied kannte das bereits und äußerte sich nur über ein feines Lächeln, dass um seine Mundwinkel spielte.
"Dann werde ich mal nach dem neuen Schatz suchen.", seufzte er und knobelte an den Einstellungen seines Tresors. Vier Versuche brauchte er, um die richtige Kombination zu finden. Liliane realisierte, das ein Abschied anstand, diesmal wirklich. Die einst kräftigen Hände des Mannes waren im letzten halben Jahr merklich schmäler geworden und auch einen Hauch zittrig. Vor 15 Jahren hatte er sein Geschäft bereits in die Hände einer jungen Berufskollegin geben wollen. Sie hielt dem Druck nicht stand. Seine Kundschaft war verwöhnt. Ungewöhnliche Formen handwerklich auf höchstem Niveau. Gleichzeitig kamen viele Kunden wegen seiner Art, nicht auf Halde zu produzieren, sondern zusammen mit dem möglichen Käufer ein passendes Schmuckstück zu erarbeiten. Dabei sprach er nicht viel. Zeichnete kurz etwas, holte ein Stück für einen anderen Kunden aus der hinten gelegenen Werkstatt und erläuterte anhand des fertigen Schmuckes, warum dieser für den ihm gegenüber Sitzenden nichts sein könne. Aber mit kleinen Änderungen in der Goldfarbe - Silber hätte er ihnen nie angeboten - vielleicht in Kombination mit einem oder mehreren Edelsteinen, könnte es sich auch für sie lohnen...
Gerade holte er ein Schmucktablett aus dem Tresor und stellte es neben das eingeschweißte Gold auf den Tisch. Liliane stockte etwas der Atem, als sie den Ring darauf wahrnahm.
Ihr Mann schaute den Goldschmied an, der nickte aufmunternd. Langsam griff er zu und streifte den Ring an seinen kleinen Finger. Das war kein eleganter Firlefanz, sondern Schmuck in Reinkultur. Liliane hatte noch nie ein großes Faible für eigenen Schmuck gehabt. Aber ein Faible für geglücktes Design und wenn es noch so minimalistisch war.
Die Männer beratschlagten über einen Edelstein als Zusatz. Allein der Gedanke ließ ihren Magen zusammenziehen. Eine scheinbar perfekte Arbeit wegen eines funkelnden Steines zu 'schädigen', verstand sie nicht.
Lieber ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Am Fenster stand schon seit Jahren ein weiblicher Akt aus Bronze auf der alten Schmuckwerkbank. Ein sehr weiblicher Akt, ihrer Figur nicht unähnlich. Breite weiche Hüften, im Verhältnis dafür kleine Brüste. Die Arme hochgereckt, vielleicht um wirklich den Busen vorteilhafter darzustellen. Sie hatte sich beim letzten Besuch hier erstmals getraut, nach dem Preis zu fragen - leider war die Skulptur unverkäuflich. Die Frau des Goldschmiedes hatte sie gestaltet und ihm irgendwann zu einem Hochzeitstag geschenkt. Eine charmante Geste, ein Wink, vielleicht ein Augenzwinkern an ihren Mann, da sie selbst mit Mitte 70 noch ihre knabenhafte Figur behalten hatte.
Auf der anderen Seite des Raumes blieb ihr Blick endlich hängen. Ein Armband und der passende Ring in etwas psychedelischen Look hatten Ehrenplätze ihr gegenüber in einer Vitrine gefunden. Ein Schild wies sie als Arbeit aus den 60ern aus. Liliane schluckte. Sollte sie fragen? Sie konnte diese Stücke nicht richtig einordnen. Silbern mit grünen Steinen, Turmalin? Das Armband aus fünf Silberreifen zusammengesetzt, verziert mit dünnen Ketten. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Südamerika - Van Däniken - die angeblichen Zeichen von Außerirdischen waren hier in Schmuck verarbeitet.
In diesem Moment erhob sich der Goldschmied, um einen schwarzen Diamanten in der Werkstatt zu suchen. Ihr Mann schob ihr den neuen goldenen Ring zu. Für sie viel zu groß, zu schwer, zu protzig. Trotzdem fand sie ihn tatsächlich goldrichtig.
"Hab alles gefunden."
Mit sich zufrieden kehrte der Goldschmied aus den hinteren Räumen zurück, in seinen Händen zwei kleine Behältnisse, in denen viele kleine Papierbriefchen steckten.
Sollte sie es wagen?
"Ich habe auch etwas gefunden...", entgegnete Liliane und zeigte auf den "Alien"-Schmuck. Diesmal erntete sie einen erstaunten Blick. Sie war ihm als Kaufbegleitung und -beratung bekannt, man war sich auch in ihrem Beruf fachlich begegnet, eigene Wünsche hatte sie noch nie geäußert.
"Das Armband?"
"Nein, der Ring."
Ein Griff in den Tresor und er hielt den Schlüssel für die Vitrine in der Hand.
"Die Dame, für die ich diese Kombination angefertigt habe, ist letztes Jahr gestorben. Die Erben haben mir den Schmuck zurückgebracht und geschenkt."
Während er sprach, versuchte der Goldschmied bereits ihr den Ring überzustreifen. Leider ohne Erfolg. Zumindest für drei Minuten. Mithilfe eines Ringstockes und zwei kleinen Schlägen saß der Ring, als ob er für Lilianes linken Ringfinger geschmiedet worden wäre. Ihr Mann konnte die Aktion nicht fassen.
"Was bin ich schuldig?", fragte sie entzückt.
"Den Ring zu tragen. Ich schenke ihn Ihnen."
Ruhige Worte, denen frau nicht widersprechen wollte und es doch tat.
"Ich kann den Ring unmöglich geschenkt annehmen!"
Er lächelte fein. "Sie können und Sie werden."
"Das hier...", er wies um sich, "...ist bald Geschichte. Solche Ringe mag heute niemand mehr. Ein bisschen habe ich Sie die letzten 30 Jahre kennengelernt. Sie mögen ihn und werden ihn in Ehren halten."
Etwas Wehmut lag in seiner Stimme.
Lilianes Mann hatte sich kurz zurückgenommen. Jetzt nahm er ihre Hand, zog seine Brille ab und betrachtete das Schmuckstück genau.
"Mach ein Foto!", meinte er schließlich. Sie machte. Sie machte oft, was er sagte.
"Sie wissen, dass die immateriellen Dinge uns alle überdauern?", drang die leise Stimme des Goldschmieds in ihr Ohr.
Sie schmunzelte. "Möglich, aber dies hier ist Materie pur."
Ihr linker Daumen berührte den Ring von innen, fuhr ihn entlang, wie sie es von der rechten Hand gewohnt war. Es war seltsam vertraut.
Sie mussten ein seltsames Bild abgeben. Ihr Mann mit dem Goldring, sie mit dem alten Silberring und der Goldschmid, der bereits über einem neuen Entwurf grübelte. Kein Gesicht sah weniger zufrieden aus, als eines der anderen.
Zusammen bildeten sie einen kleinen Kreis des Wohlbehagens oder eher Gedenkens? Kein Stonehenge, nicht verbunden, jeder versunken in seinen eigenen Gedanken.
Es würde ihr fehlen, das wusste Liliane. In den Augen und Bewegungen des Goldschmiedes hatte sie das Ende ihrer jährlichen Treffen gelesen.
© mariediv 2020