Nur ein Kollateralschaden?
Die ältere Dame steht still im Schatten der dicht belaubten Bäume. Es ist ein heißer Tag im August, die Kühle des Friedwald ist angenehm, dennoch klebt das
farbenfrohe Sommerkleid an ihrem ausgemergelten Körper. Gram gebeugt steht Hanna da, der Schmerz hat tiefe Furchen in ihr einst leuchtendes Gesicht gegraben. Aus leeren Augen starrt sie auf das unscheinbare Loch im Waldboden. Ihre Hände umklammern einen Briefumschlag in ihrer Tasche, knisternd wie
Bonbonpapier. „Warum nur?“ schießt es ihr schmerzhaft durch den Kopf. Die Trauer
beamt ihre Gedanken zurück in eine Zeit, in der sie noch glücklich war.
Sie lernten sich erst spät im Leben kennen, die kräftige Erzieherin und der drahtige, verwegen aussehende Werkzeugmacher. Sie war ihm sofort erlegen. Er war der einzige Mann im vegetarischen Kochkurs der Volkshochschule, beide deutlich älter als alle anderen Teilnehmer. So blieb es nicht aus, dass man ins Gespräch kam. Die beiden verabredeten sich zum gemeinsamen Kochen und es folgten wunderschöne harmonische Abende mit langen tiefsinnigen Gesprächen, in denen man eine umfassende gegenseitige Verbundenheit, ja fast eine Seelenverwandtschaft erkannte. Sie wanderten stundenlang Hand in Hand durch die Natur, lachten und alberten wie die Kinder. Eines Tages saßen sie in „ihrem Wald“ auf einem umgestürzten Baum und schauten in den Himmel. Es war ganz still zwischen ihnen, als Hans
kleinlaut und mit belegter Stimme sprach: „Hanna, ich fühle mich wie ein kleiner Junge und würde mir sehr gerne etwas
wünschen…“ Zärtlich nahm er ihr Gesicht in seine Hände und fuhr fort: „ich würde Dich sehr gerne jetzt küssen“.
Hanna zitterte, Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie konnte sich nicht bewegen als wäre sie mit unsichtbarem Leim an dem mächtigen Baumstamm, auf dem sie saßen, festgeklebt. Diesen Moment des ersten Kusses, wird sie niemals vergessen. Noch heute spürt sie seine Lippen auf den ihren, sanft,
honigsüß und zärtlich, fühlt sich geborgen in seinen kräftigen Armen.
Pläne für eine gemeinsame Zukunft wurden geschmiedet. Beide wussten, mit ihrer Arbeit sind sie nicht glücklich. Bis zur Rente waren es für beide noch ein paar Jahre, für sie sieben und für ihn fünf. Hanna erzählte Hans von ihrem Traum. Ein Selbstversorger Hof mit Gästezimmer. Ein paar Schafe und Ziegen, Hühner und einen großen Gemüsegarten. Ein alternatives Ferienangebot mit vegan-/vegetarischen Kochkursen, Meditations- und Entspannungsangeboten. Hans war sofort begeistert. Voll Einsatz und Engagement erstellten Sie gemeinsam einen Bussiness-Plan. Als er stand, machten sie sich auf die Suche nach einer geeigneten Location, die sie schon bald im Osten Deutschlands, in der Nähe eines kleinen Ortes aber doch abgeschieden, idyllisch an einem malerischen kleinen See gelegen, fanden. Die Verhandlungen mit der Bank waren hart aber das Feuer ihrer Begeisterung sprang auf den jungen Banker über und überzeugte diesen letztendlich. Hanna und Hans kündigten ihre Jobs, kratzten ihre letzten Ersparnisse zusammen und waren fortan nur noch für ihren Traum da. Die ersten Jahre waren hart. Hanna kümmerte sich um die Tiere, die Gäste, sie war der gute Geist aller. Hans versuchte, durch geschicktes Jonglieren, die Finanzen zu ordnen, was nun eigentlich gar nicht seinem handwerklichen Geschick entsprach, aber sie schafften es! Nach gerade mal 1 Jahr schrieb ihr Konzept „Urlaub im Einklang mit der Natur“ schwarze Zahlen. Sie hatten viele Stammgäste, und waren meist ein Jahr im Voraus ausgebucht. Gut, reich werden konnten sie damit nicht, dafür waren die Hypothekenkosten einfach zu hoch aber dank Selbstversorgung konnten sie davon mit Ihren Tieren leben. Mehr brauchten sie nicht. Sie waren glücklich mit dem, was sie hatten. Einen Platz in wundervoller Natur, ihre Tiere und ihre Gäste, die sie meist als Freunde verließen. Und ganz wichtig: Sie hatten sich und ihre Liebe!
Dann kam Corona …
Zunächst bekamen sie es in ihrer Idylle gar nicht so mit. Sie hörten im Radio zwar Meldungen, dass da wohl ein neuer Virus von China rübergeschwappt wäre, aber alles nicht so schlimm wurde es abgewiegelt, ähnlich einer Grippe. Sie hatten keine Angst vor Krankheiten, lebten sie doch seit Jahren gesund und waren nie krank! Einen Fernseher gab es bei Ihnen nicht und Radio und Internet benutzten sie selten. Plötzlich blieben die Gäste aus, stornierten ihre Buchungen. Dann kam der offizielle Brief. Sie mussten schließen. Lockdown. Hanna fing an zu recherchieren, stieß auf völlige widersprüchliche Meinungen, seltsame Maßnahmen, deren Wirksamkeit zunächst angezweifelt, dann doch durchgezogen wurde, völlig widersprüchlich und irrsinnig für ihren klaren Menschenverstand. Monatelang keine Einnahmen. Dann kam vom Staat eine kleine finanzielle Unterstützung, mit der sie sich erstmal über Wasser halten konnten, dennoch hing permanent die Insolvenz drohend wie ein Damoklesschwert über Ihnen. Wie lange würde der Lockdown dauern? Die Tiere mussten versorgt und gefüttert werden, die Bank wollte ihr Geld. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam die Aussicht auf Öffnung, jedoch nur mit einem Hygiene-Konzept. Hanna las kopfschüttelnd und unglücklich die Vorgaben. Sie ahnte, unter diesen Voraussetzungen würde niemand mehr auf ihrem Hof verbringen wollen. Menschen, die für ein Leben im Einklang mit der Natur stehen, würden ihren Urlaub kaum mit Desinfektionsmittel und Masken verbringen wollen. Die Gäste blieben aus. Alle ihre Hygiene-Konzepte wurden von den Gesundheitsämtern abgeschmettert. Das Schlimmste aber war, dass Hans immer stiller wurde. Sie spürte, dass er sich Sorgen machte. Immer, wenn sie ihn darauf ansprach, lachte er, nahm sie in den Arm und küsste sie. Vor einigen Tagen nun flatterte die Mitteilung ins Haus, dass sie nun die finanzielle Unterstützung zurückzahlen sollten! Für die Beiden bedeutete das das AUS! Von was sollten sie die Summe zurückzahlen? Sie hatten seit Monaten keine Gäste, keine Einnahmen!
Mit einer lässigen Handbewegung wischte Hans ein weiteres mal ihre Sorgen vom Tisch und meinte nur:
„Wir beide schaffen das schon! Gemeinsam sind wir stark!“
Am nächsten Morgen lag ihr geliebter Hans leblos neben ihr im Bett.
Hanna weinte und schrie, immer wieder fragte sie: „WARUM?“
Dr. Alexander Meinolt, Arzt und bester Freund Ihres Mannes, überreichte ihr einen Brief mit den Worten:
„Liebe Hanna, Hans war sehr krank. Er wollte nicht, dass Du es weißt, damit Du Dir keine Sorgen machst. Ich hatte ihn kurz vor dem Lockdown dazu überredet, sich einen Bypass legen zu lassen. Der OP-Termin stand schon fest, dann kam der Lockdown. Der Termin musste erst einmal verschoben werden. Nun wäre es wieder möglich gewesen. Ich habe Hans vor einigen Tagen deswegen kontaktiert. Am nächsten Tag kam er zu mir in die Praxis. Er gab mir diesen Brief, den ich Dir geben sollte, wenn ihm etwas zustößt. Ich versuchte, ihn von der Dringlichkeit der OP zu überzeugen, weil sich seine Werte drastisch verschlechtert hatten, aber er sagte nur:
„Lass gut sein, alter Freund, jetzt ist nur noch Hanna wichtig! Versprich mir, ihr nichts von unserem heutigen Gespräch zu sagen!“ Es tut mir leid, Hanna, er hat Dich sehr geliebt!“
Nun steht sie hier. Die Wochen nach Hans Tod hat sie wie in Trance erlebt. Auf einmal stand dieser junge Mann im Anzug vor ihr und erzählte ihr etwas von einer hohen Lebensversicherung, die Hans wohl zur Absicherung des Hofes abgeschlossen hatte. Die Summe reichte, um die Schulden abzulösen und sie noch einige Monate über Wasser zu halten. Aber was sollte sie hier ohne ihn? Es war ihr gemeinsamer Traum, ohne ihn war das alles nichts mehr wert! Wieder knistert der Brief in ihrer Tasche als wolle er sich in Erinnerung rufen. Zögernd nimmt sie ihn aus der Tasche und öffnet ihn.
Geliebte Hanna,
bitte verzeih mir, aber das war der einzige Ausweg. Ich hätte es nicht ertragen, dass Du Deinen Lebenstraum verlierst. Ich liebe Dich für immer! Werde glücklich! Ich bin auf ewig an Deiner Seite!
In tiefer Liebe
Dein Hans
Wütend zerknüllt sie den Brief und wirft ihn in das Loch im Waldboden. Ihr Blick fällt auf die einfache Urne mit dem eingravierten Herz. Tränen steigen ihr in die Augen. Langsam senkt sie die Urne in das Grab am Fuß der mächtigen Lärche.
„Ach Hans, was ist Geld und Haus, was ist unser Traum ohne Dich? Ich hätte lieber in Armut und Entbehrung mit Dir gemeinsam gelebt als mit Haus und Hof ohne Dich!“
Sie nimmt eine kleine Glasperle in Form eines filigranen Herzens aus ihrer Tasche und legt sie vorsichtig mit ins Grab.
„Du hast mein Herz mit in Dein Grab genommen!“
Katzendiva, 08.08.2020