Nicht von dieser Welt
Die Glasperlenspiele klimperten in den Baumkronen des Birkenwäldchens, an dessen Saum Riddikly, die weise Frau, entlangschritt und Wildkräuter sammelte, weil die Sonne ihren liebgewordenen Charleston gestochen hatte, und er neben seinen Schuhen im Schatten der Bäume stand und versuchte, seine Gefühlswallungen zu bändigen und sich dabei nicht zu übergeben. Er blickte auf den Horizont des Weihers und beobachtete all die nackten Menschen, wie sie auf ihren Brettern, die ihre Welt bedeuteten, standen, und über die Wasseroberfläche paddelten, um ihre reinblütigen Hunde und auch Mischlingstiere zu bespaßen. Das machte ihn noch unsicherer auf seinen Beinen, und er kniete sich langsam nieder, um sich abermals auf die unebene, grasbewachsene Erde zu setzen.
Überall um ihn herum brummte und summte das Leben und die Sonnenstrahlten malten Prisma-Bilder in die ungezählten Lücken des Blätterdaches der Birken hinein, unter denen er sich von der Natur auszuruhen versuchte. Zuvor hatten die papiernen Kopierfischchen im flachen Uferwasser an den Schwielen seiner unerfahrenen Füße, was das nackte Erlebnis verschiedener Untergründe anging, geknabbert, und er hatte laut vor sich hingedacht: „Wow, in der Großstadt bezahlt man eine Stange Geld für so eine Wellnesssitzung, und hier gibt es das frei Haus und sogar ohne vorherige Bestellung und langwierigen Wartelisten?“
Die Kinder, die unter dem benachbarten Flickenteppich aus Sonnenschirmen herumtollten, knisterten mit den Bonbonpapieren in ihren schokoladenverschmierten Händen und beschmierten sich damit gegenseitig die Gesichter – wie Indianer auf dem Kriegspfad. Sie tobten zwischen Weiherufer und Liegewiese hin und her, bevor sie ins kühlende Nass rannten und sich gegenseitig mit einer Wasserschlacht bekriegten.
Ihr Gelächter schallte bis in das Birkenwäldchen hinein, aus dem Riddikly plötzlich auftauchte, um sich zu Charleston hinunter zu beugen und sein Gesicht in ihre sehnigen Hände zu nehmen und es sanft zu küssen. Ihr ganzer sonnengebräunter Körper war mit Wassertropfen benetzt, und sie umarmte ihren Liebsten, um ihn abzukühlen. Dabei ließ sie die Wasserpflanzen, die sie zwischen den Zähnen trug, ins Gras fallen und ahmten den Ruf einer weißen Schleiereule nach.
Charlestons Zeit schien stillzustehen, und sein Herz schlug schnell. Er roch Riddiklys Duft nach einem freien und wilden Leben, und ihm ward erneut schwindelig. Er legte seine trockenen Hände um Riddiklys kühlen Hüften, saugte mit seinen rauen Handinnenflächen die Feuchtigkeit ihrer Haut auf, zog sie sanft noch näher zu sich heran und erwiderte ihren Kuss.
Dabei vergaß er alles um sich herum, tauchte ein in ihre farbenfrohe Aura und hörte das lachende Timbre ihrer Stimme, das in den vergangenen Stunden so oft erklungen war …
Eine kräftige Hand rüttelte grob an Charlestons Schulter und eine Männerstimme sprach ihn an: „Alle seit Wörmsberg neu zugestiegenen Fahrgäste die Zugtickets bitte!“
Charleston gähnte herzhaft, und ihm fröstelte es etwas. Er zückte seine Rückfahrkarte und wünschte sich sofort an den Weiher zurück. Gerade als er dem Zugchef sein Ticket reichen wollte, erweckte ein honigsüßes Kinderlachen seine Aufmerksamkeit, und er erblickte plötzlich einen pinkfarbenen Buddha mit Elefantenkopf im Gang des vollbesetzten Waggonabteiles. Dieser stand hinter dem Zugchef. An seinem ausgestreckten Rüssel hing ein Eimerchen mit Leim, während er einen Pinsel im Rüsselende hielt. Charleston rieb sich seine erschöpften Augen, als der Elefantenrüssel plötzlich zu glühen begann und einen bläulichen Lichtstrahl auf ihn richtete, um ihn ins zu Riddikly ins Nirwana zu beamen.
„I hob di liab“, flüsterte er in das verdatterte Gesicht des Zugchefs, während über die Bordlautsprecher UKWs Musik geräuschvoll erklang und die Songzeile, „Ich bin ganz verschossen, in deine Sommersprossen“ losdudelte, bevor Charleston sich in seine Quäntchen auflöste und vor den Augen des Zugchefs auf nimmer Wiedersehen verschwand.
© CRK, 08/2020
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