Der blaue Tod
Plum saß auf seinem Allerwehrtesten und zupfte seiner Sonnenblume ein Blütenblatt nach dem anderen aus, bis sie ganz nackt war und ihr brauner Blütenkorb ihm traurig entgegennickte. In Gedanken sang er dabei: „Ich küsse sie, ich küss sie nicht. Weil lieb ich sie oder auch nicht …?“
Man hatte ihm aus Sicherheitsgründen eine Windelhose angezogen. Denn in dieser schwülwarmen Jahreszeit neigte er oft zu unkontrollierten Ausscheidungen. Sein Gehirn arbeitete bei diesen Temperaturen auf Hochtouren, und niemand konnte mit Gewissheit vorhersagen, wieviel Wissen es dabei preisgeben und aus seiner zentralen Schaltstation hinauskehren würde.
Plum war das letzte Knopfauge seiner Art auf dieser Welt, dessen Denkmaschinerie in seinem Unterleib saß und von dort aus Schaltete und Waltete, wie es ihr in den Sinn kam. In seinem Kopf dagegen befand sich nur eine Mischung aus Schurwolle und rostigen Reiszwecken, so wie auch der Rest seines Körpers mit Schurwolle angefüllt war.
Seine Denkmaschine allerdings bestand aus einem Wirrwarr aus gestrickten Windungen, Höhlungen und Gängen und war in sich verschlungen. In ihrem Inneren brütete sie über ungezählte Batterien von Knopfbabys, die erst noch reifen mussten, bevor sein Denkapparat sie schließlich in die Freiheit entlassen würde.
Er fraß nämlich mit Vorliebe die abgetragene Kleidung anderer Leute, verdaute deren Stoffe zu Schmetterlingspuppen und modifizierte die alten Knöpfe in seinem Inneren zu etwas Neuem. Oft kam dabei das ein oder andere Potpourri-Mosaik heraus, das er dann aus seinen Windelhosen schütteln musste, damit er mit diesen neugeborenen Knöpfen seine Bonbongläser für die neugierigen Kinder dieser Welt befüllen konnte.
Plum war von bäriger Statur und trug ein silbernes Fell. Er war ein Tanzbär, der gedanklich nie stillstand und sich wie ein Perpetuum-Mobile über Tisch, Stuhl und Bett bewegte, damit er seiner geistigen Hyperaktivität genügend Raum gewähren konnte, so dass diese sich gebührend in Szene setzen und auf ihren ureigenen Laufstegen modeln konnte.
Bequem war das nicht für Plum, doch das war ihm herzlich egal. Denn er hasste es, irgendwo stillzustehen und auf Godot zu warten und den lieben langen Tag nur Däumchen zu drehen. Es entsprach einfach nicht seiner Natur.
Und so streunte er durch sein buntes Leben und saugte es auf wie ein ausgedörrter Klassenzimmertafelschwamm, damit er innerlich nicht austrocknete und schiss in einer Tour Knöpfe aller Art in seine Windelhosen.
Es kamen aber auch beständig irgendwelche Kinder zu ihm, die ihre marode Kleidung gegen neues Knopfspielzeug eintauschen wollten, um sich daraus eventuell einen Tarnmantel besetzt mit lauter bunten Teilchen dieser Art zu basteln, damit sie sich vor den Argusaugen ihrer Eltern verstecken konnten.
Plum war ein zufriedenes Knopfauge und lebte in einem Iglu aus bewaldeten Baumzweigen, am Rande von Sag-ja-Rah, dem unendlichen Baum-Meer, das eine natürliche Barriere zur Steinwüste der Uhrzeit bildete.
Er genoss jeden Pinselstrich seines Daseins und lachte wie ein Honigkuchenpferd, wenn er von den Kindern dieser Welt Besuch bekam. Nur manchmal war er sehr wütend darüber, wenn ein Schelm aus seiner Nachbarschaft böses dachte, und ihm den einen oder anderen Felsbrocken aus der entfernten und manchmal doch so nahen Steinwüste der Uhrzeit vor die Türe legte, um ihn daran zu erinnern, dass auch sein Dasein befristen war, so wie das seiner Kinder.
Dann stampfte Plum unwillig mit seiner Bärentatze auf, zerbrach sich dabei sein Denkergedärm und schoss lauter rostige Reißzwecken aus seinem Schurwolle-Kopf in die benachbarten Baumstämme, um damit seine Geistesblitze via Post-its an die Bäume zu pinnen.
Doch es half alles nichts. Auch er konnte die Gesetze dieser Welt nicht brechen oder gar um- beziehungsweise neuschreiben. Eines Tages kam es, wie es kommen musste, und der Gevatter Tod klopfte an sein belaubtes Iglu-Dach.
Plum hieß ihn widerwillig willkommen und fragte ihn, ob er nicht erst noch mit ihm eine Tasse Früchtetee trinken wolle, bevor er zur Tat schreiten würde.
Der Gevatter Tod freute sich darüber sehr, denn normalerweise lud man ihn nie zu einer Tasse Tee ein. Schwungvoll legte er seinen Sternenumhang ab und betrat Plums Iglu, dass sich im Inneren auf die Größe eines halben Märchenschlossen ausdehnte und viele Vorratskammern, Schlafhöhlen und auch Spielhöhlen beherbergte.
Plum machte sich geruhsam daran, seinen Blaubeertee zu brühen und drapierte einige Wurzelknollen und Kräuterlinge auf einer Holzplatte zurecht, die er dem Gevatter Tod in einer seiner größten Spielhöhlen kredenzte.
Als der Tee fertig gewesen war, schenkte er seinem Gast ein Tässchen davon ein und reichte ihm dieses. Der Gevatter Tod unterbrach sein Wiegenlied, dass er für die soeben gefangene Stubenfliege gesungen hatte, denn er wollte seiner Enkelin eine Weggefährtin mitbringen und schenken. Nebenbei nahm er einen kleinen großen Schluck von seinem Blaubeertee, tropfte augenblicklich den Holzdielenboden unter seinem Schemel voll und färbte diesen blau.
Der Gevatter Tod kicherte, als er sein kleines Malheur bemerkte und sagte: „Ja, das bleibt wohl für immer mein Los. Ich kann nichts zu mir nehmen, ohne dass ich den Boden unter mir besudele.“ Dabei streifte er sich mit seiner einen Skeletthand über den nackten Schädel und erschrak, als er gewahr wurde, dass auch die Knochen seiner Hand blau gefärbt waren.
Nun war es Plum der laut auflachte und sich die Teddybärentatzen rieb.
„Du wirst auf immer und ewig ein blaues Skelett bleiben, wenn du mich nicht freigibst“, sagte er im freudigen Tonfall und streckte dem Gevatter Tod seine blaue Zunge entgegen. „Leg mir dein Ehrenwort auf meine Zunge, damit ich es mir einverleiben kann und du an deinen Schwur gebunden bist“, fuhr er fort und wähnte sich als der Schlauste seiner Art, von der er der letzte überlebende Vertreter gewesen ist.
Ein Donnergrollen, das schnell näher kam, erschütterte das Iglu und die nahestehenden Bäume, als der Gevatter Tod sich erhob und anstatt vor Zorn zu erbleichen, immer blauer anlief und solange schneller und schneller werdend vor sich hin japste, bis Plum ihm eine seiner papiernen Mülltüten reichte, damit er in diese ein- und ausatmen konnte.
Als sich der Gevatter Tod schließlich – auf seinem Schemel sitzend - wieder gefangen hatte, brummte er schließlich: „So sei es“, und erhob sich abermals. Er steckte die erstarrte Stubenfliege anstelle von Plum in die Tasche seines Sternenumhangs und bedankte sich bei seinem Gastgeber für die lehrreiche Lektion.
Dann schwor er Plum auf seine bläuliche Zunge das Ehrenwort, dass er ihn nie holen kommen und mit sich in sein Reich nehmen würde. Es sei denn er selbst würde ihn freiwillig rufen und dazu bereit sein, ihm zu folgen.
Schließlich erhob er sich mit knirschenden Knochen und Plum gab ihm zum Abschied einige seiner weißen Knallerbsen, die sein Gast zerkauen sollte, damit sein Skelett sich wieder beige verfärben würde.
So kam es, dass der Gevatter Tod einmal in seinem langen Dasein blau gewesen ist.
© CRK, Le, 08/2020
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