Sex mit Karl
Bei Sonnenuntergang stand sie am Hafen und blickte der Fähre nach, die immer kleiner wurde und schließlich aus ihrem Blickfeld verschwand. Der Himmel verwandelte sich in ein impressionistisches Gemälde aus Kaskaden von Rosa und Orange, ein hinreißend kitschiges Schauspiel, von dem sie nie genug bekam. Amera setzte sich auf eine Holzbank am Kai und berachtete den glühenden Himmel. Sie fühlte sich wieder ein wenig wie damals mit 20, als sie mit ihrer ersten Liebe nach Naxos geschippert war: frei und voll Abenteuerlust. Und hungrig, sehr hungrig.
In ihrer Hosentasche vibrierte das Handy. Noch eine Nachricht von Karl. Sie würde sie ebenso wenig beantworten wie seine letzten fünf. Seit sie sich vor einer Woche getrennt hatten, ging es ihr täglich besser. Ihr gemeinsamer Urlaub endete mit einem Streit am Flughafen, der derart eskalierte, dass Amera Karl stehen und den Flug sausen ließ. Ein Taxi brachte sie zurück zum Hafen und die Fähre zurück auf die Insel, die sie gerade erst verlassen hatte. Sie hatte ohnehin nicht abreisen wollen. Und jetzt würde sie die Insel und das Meer erst richtig genießen können – ganz ohne Karl.
Es war tatsächlich eine Schnapsidee gewesen, noch einmal zusammen zu verreisen. Amera hatte sich überreden lassen von ihm, der sich eine Wiederbelebung ihrer kränkelnden Beziehung erhoffte. Mittlerweile war ihr klar, dass es einzig ihre Sehnsucht nach dem Meer gewesen war, dass sie spontan eingewilligt hatte. Doch dann hatte er ein Doppelzimmer gebucht, in einem im Romantikhotel! Amera verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf über sich selbst. Karl und sie hatten schon seit Jahren getrennte Schlafzimmer. Seither genoss sie ihren erholten Schlaf und den Freiraum, den sie seitdem hatte. Wie hatte sie sich bloß darauf einlassen können!
Die erste Nacht verbrachte sie schlaflos neben dem laut schnarchenden Karl. Das Abendessen am Hafen war sehr gut gewesen und der Rotwein reichlich geflossen. An jenem Abend hatten ihre Gespräche zu einer Leichtigkeit zurückgefunden, die sie lange vermisst hatte.
Den zweiten Tag verbrachten sie am Strand. Amera hatte es sich auf der gut gepolsterten Liege gemütlich gemacht, den neuen Roman ihres Lieblingsautors im Schoß und blickte auf das endlose Blau. Es war so angenehm und unspektakulär, wie es nur mit jemandem sein konnte, den man schon von Anbeginn der Zeit kennt. An den man sich so gewöhnt hat, dass man die Badezimmertür nicht mehr schließt, weil es nichts mehr zu verbergen gibt. Und nichts mehr zu entdecken.
Einige Meter weiter war Karl damit beschäftigt, eine überdimensionale
Sandburg zu bauen. Er war ganz vertieft in sein Tun, suchte nach Muscheln und Steinen. Amera beobachte seine flinken Bewegungen.
Gelenkig war er immer gewesen, doch auch seine
Körperlandschaft hatte sich verändert in den letzten Jahren, einstige Täler waren zu feisten Bergen angewachsen. Amera störte das nicht, mit einem Waschbärbauch konnte sie leben. Solange die Kommunikation zwischen ihnen intelligent und belebend war, waren solche Äußerlichkeiten unbedeutend. Doch eben dies war seit Jahren der springende Punkt zwischen Karl und ihr: Ihre Gespräche waren fast nur noch seicht und alltäglich. Karl war für Amera zu erotischem Niemandsland geworden.
Die nächste Nacht. Sie war gerade eingeschlafen, als sie eine feuchte Berührung an ihren
Fesseln spürte. Karls emsige Finger waren schon dabei, an ihrem Bein hochzuwandern, um sie zu
entblättern. Sein langgezogenes Stöhnen ließ sie endgültig hochfahren. Mit einer ruppigen Bewegung setzte sie sich im Bett auf, um diesen Spontanüberfall sofort zu beenden. Mehr musste sie nicht tun. Karl wich zurück und trollte sich an den äußersten Rand seiner Bettseite. Ja, in ihrer Beziehung hielt sie das
Zepter in der Hand und damit seine
Kronjuwelen unter Kontrolle. Nicht, dass sie darauf gesteigerten Wert gelegt hätte. Sie war müde und frustriert und sie war es leid. Sie spürte das mit einer überwältigenden Deutlichkeit, die sie selbst überraschte.
Der dritte Tag begann mit Schweigen. Karl war gekränkt. Amera störte sich nicht daran. Der Strand war fast menschenleer und ein leichter Wind sorgte für Erfrischung. Sie fühlte sich wie eine
Diva auf ihrer gepolsterten Liege unter dem Sonnenschirm. Hoch zufrieden ließ sie den Blick über den unendlichen blauen Horizont schweifen und vertiefte sich dann wieder in ihren Roman.
Erst am Nachmittag fand Karl seine Sprache wieder: „Auch einen Ouzo auf Eis, Liebes?“
Sie verneinte. Das Abendessen verlief ohne Zwischenfälle. Und auch in der dritten Nacht ließ sie ihn abblitzen. Und sie wollte auch nicht mit ihm darüber reden, schon gar nicht mitten in der Nacht. Karl zog auf dem Balkon um und sie atmete erleichtert auf.
Die Nacht senkte sich über das Meer. Der Hafen war menschenleer. Amera war nun endlich allein und wusste nun ganz genau, was sie auf gar keinen Fall mehr wollte: Sex mit Karl.