„Gardien du mal“
Tief in den Vogesen, im Osten Frankreichs duckt sich eingeschüchtert ein kleines Dörfchen an die kargen Hänge des engen Tales. Wir schreiben das Jahr 1978, aber hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Das knapp 200 Seelen zählende Dorf wirkt verloren, vergessen von der Neuzeit und erstarrt in altem Brauchtum. Kaum jemand verlässt es, fast alle verrichten ihr Tagewerk vor Ort. Ein wenig Viehzucht, karge Felder und Gärten, etwas Holzwirtschaft, die Jagd, es reicht zum Überleben, aber nicht zum Leben. Eintöniges staubgrau ist die bestimmende Farbe und hoch über dem Dörfchen, quasi auf der Bergkuppe erhebt sich, einem hölzernen Wächter gleich, die verfallen wirkende Ferme von Pasternak. Einem grobschlächtigen Bär von Mann, einem Tschechen den es vor Jahrzehnten hierher verschlagen hat. Die Bewohner munkeln über Pasternak, der angeblich russische Wurzeln haben soll und nennen ihn, hinter vorgehaltener Hand Gardien du mal, was so viel wie Hüter des Bösen bedeutet. Eine böse
Vorahnung scheint ständig, gleich einer finster dräuenden Wolke, über dem Dörfchen zu liegen. Nur ganz selten
riskieren die Menschen ein befreiendes Lachen und
sehnsüchtig scheinen sie auf Erlösung von außen zu warten. Aber niemand Fremdes verirrt sich hierher, ein unsichtbarer Fluch scheint alle seit Jahren von diesem verwunschenen Ort fernzuhalten. All dies wird Pasternak in die Schuhe geschoben, dazu die Kenntnis von schwarzer Magie, ein schändlicher Lebenswandel und der Hang zu Gewalt und Verbrechen. Der Unheiligkeit bezeichnet man ihn, ja gar der Teufelsanbeterei. Die Dorfbewohner schlagen einen großen Bogen um Pasternak und seinen Bauernhof und raunen sich leise zu, dass dort böse Geister ihre Umtriebe hielten.
Loyal stehen die Dörfler in ihrer Verbohrtheit zusammen, niemand
fremdelt in dieser Anschauung und alle betrachten Pasternak als sprichwörtliche Ausgeburt der Hölle. Aberglaube wird großgeschrieben im Dorf der etwas eigenbrötlerischen Altbackenen. Und Pasternak tut nichts, aber auch gar nichts um diesen Eindruck zu entkräften. Es scheint fast so, als genösse er seinen bösen Ruf und die daraus resultierende Einsamkeit.
Pasternaks Erscheinung trägt wesentlich dazu bei, groß und kräftig gewachsen, unnahbar wirkend, düstere Gefahr verstrahlend. Sein graues, zerzaust getragenes Haar, der eisgraue Kinnbart, finster drein blickende Augen und kantige, grimmige Gesichtszüge, der befehlende Ton, wenn er überhaupt spricht untermalen diese Eindrücke. Seine Kleidung wirkt immer schmuddelig und niemand sah ihn je ohne seine schwere Jacke im
Hahnentritt – Muster und die altertümlich, aber bestens gepflegt wirkende doppelläufige Schrotflinte. Sein Alter ist schwer einzuschätzen, irgendwo zwischen 60 – 70 Jahren so scheint es. Herumliegende Steine, Felsblöcke, wildgewachsene Sträucher und eine Unmenge von Ginsterbüschen schirmen Pasternaks Ferme ab, umgeben das Stück Land wie von des Teufels Hand ausgestreute Wachposten. Reste von Weltkrieg 1 Schützengräben durchziehen das Tal und die Hänge, war die schmale Straße doch einst eine wichtige Nachschublinie der französischen Armee. Heute verdeckt wildes Gesträuch die blutigen Vergangenheitssymbole.
Grimmig lächelnd schaut Pasternak auf das kleine Dörfchen hinab, schweigend sitzt er auf einer grob gehauenen Holzbank zwischen golden blühendem Ginster. Er wird seine Dorfbewohner nicht
enttäuschen, sie in ihren Gedanken sogar noch bestärken. Pasternak braucht diese Ruhe, er will keine Gesellschaft und seinen Lebensunterhalt bezieht er auf seine eigene Art und Weise, das geht hier niemand etwas an. Er ist ein Außenseiter der Gesellschaft und er fühlt sich wohl in dieser Rolle, ist Pasternak doch die Umwandlung, die
Metamorphose von Gut nach Böse die jeder Mensch durchläuft bestens bekannt. Seit vielen Jahrzehnten erlebt Pasternak diese Verwandlung, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wenn er es sich recht überlegt kann er den Dörflern ihren, für ihn gewählten Spitznamen nicht verdenken. Langsam erhebt sich Pasternak, ein letzter Blick über das in der Abenddämmerung versinkende Tal, das abendliche Blöken einiger Schafe begleitet ihn auf seinem kurzen Weg ins Innere seines wuchtig gebauten Blockhauses. Knarrend fällt die schwere Holztür hinter Pasternak ins Schloss, und der unruhige Schein der Petroleum Lampen flackert über eine Anzahl Fotos die mit simplen Reißzwecken an der Wand befestigt sind. Darauf zusehen eine Schar uniformierter Männer, alle zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt. In abgeschabten, graublauem französischem Tuch, Weltkrieg 1 Uniformen, auf den Köpfen schon den typischen Adrian Helm. Einer der Männer ist Pasternak, der Unteroffizier der Gruppe, der Caporal! Eine Zeitung liegt auf dem kleinen Tisch, Ausgabedatum der 17 September 1915, der grausame Tag als seine Männer starben und Pasternak als Einziger schwerverwundet überlebte. Seit Ende des ersten Weltkrieges ist er wieder hier, zurück in seinem Tal und wacht über seine toten Kameraden. „Gardien du mal“, flüstert er leise, „ihr wisst gar nicht wie recht ihr habt“!
Kamasutra 12.11.2018