Die Besprechung
Eigentlich hatte ich frei. Aber meine Meldung zu diesem Termin, der kurzfristig anberaumt wurde, bescherte mir zwar nicht Bauchweh, aber doch gewisse Fragezeichen und brachte den Frei-Zeitplan durcheinander.
Wie gewohnt, wenn ich nicht arbeiten muss, stellte ich auch diesen Mittag den Fernseher an, um irgend eine nichtssagende Serie bequem vom Sofa aus zu glotzen, mit bekannten Stimmen und absehbarer Dramatik, die mich gewünscht und zuverlässig in Entspannung und leichten Schlummer geraten ließ.
Zum Glück stellte ich den Wecker, sonst hätte ich verschlafen.
Ich springe beim Klingeln auf. Die Zeit ist knapp kalkuliert. Mit Stress im Blut radle ich los.
Auf dem Weg zur Arbeit springt eine Ratte aus dem Gebüsch. Ist das ein schlechtes Omen?
Egal. Mein Power-Nickerchen mit anschließender Desorientierung weicht gespannter Neugierde.
Ich komme gerade noch rechtzeitig an und staune. Als Neuankömmling, erst seit einem Monat in diesem Betrieb, kenne ich mich nicht so richtig aus, wie und was hier in diesem Laden läuft.
Am runden Tisch sind alle Sparten der Klinik vertreten: Oberchef als Moderator, Oberärztin, Physiotherapie, Ergotherapie, zwei Pfleger der Station, um die es geht, zwei Stationsärzte, und ich: Betreuung. Wow!
Erst jetzt begreife ich, zu was für einer Veranstaltung die mich eingeladen haben.
Die zentrale Frage ist: Was läuft? Was läuft nicht? Wo braucht ihr Unterstützung? Was können wir ändern? Wie kann das in Zukunft für alle Beteiligten besser klappen?
Was für eine Unternehmenskultur: So ein Vorgehen ist mir komplett neu. Jeder soll tatsächlich offen und ehrlich seine Meinung sagen.
Ich halte mich zurück, will erst mal hören, was andere sagen.
Je mehr Oberärztin, Physio und Ergo berichten, desto sorgloser fühle ich mich. Bingo! Ich kann mich zurücklehnen. Zugleich nimmt meine Sprachlosigkeit immer mehr zu. Diese schon lange im Betrieb integrierten und respektierten Menschen packen meine potentiellen Argumente in Worte, die ich nicht besser formulieren könnte. Sie sind wichtig, anerkannt. Dem muss ich nichts mehr hinzufügen.
Das Lob für meine Arbeit schwingt in jedem Beitrag mit: Die Anerkennung, die Notwendigkeit und der Erfolg guter Betreuung, speziell auch die Art und Weise, wie ich es angehe.
Aber ich habe keine Zeit, stolz wie Bolle zu sein, bin geplättet.
Die eine Vertreterin der Pflegekräfte ist eher launisch: Zu wenig Personal, zu viel Arbeit. Was soll das mit der Betreuung? Die machen uns noch mehr Arbeit.
Aha, die Ratte!
Mir scheint, auch sie wurde wie ich ganz bewusst eingeladen. Weil auch unliebsame Menschen eine Stimme haben sollen.
Die andere Pflegekraft scheint vor der Ratte am Liebsten wegrennen zu wollen. Sie windet sich, findet in ihren Windungen dann doch den Mut für die passenden Worte: Nicht jeder ist für diese spezielle Station, für diese speziellen Situationen, die die Umstände fordern, geeignet.
Das bringt sie subtil, aber deutlich zum Ausdruck. Ich bin ganz bei ihr. Die Obrigkeit auch.
Natürlich ist nicht alles in Butter. Natürlich ist immer zu wenig Pflegepersonal da. Irgendjemand ist immer krank, und dann geht die Dienstplan-Rechnung nicht auf.
Es könnte immer besser sein. Und die Pflege muss wirklich oft Unglaubliches leisten, und schafft es gerade so. Meine Hochachtung davor: Ihr macht einen tollen Job, und der ist nicht leicht.
Das sage ich, als ich dran bin. Und nenne meine Wünsche.
Unglaublich für mich ist: Dass es solche Besprechungen überhaupt gibt. Dass ich so viel Anerkennung bekomme, durch die Blume, querbeet. Und dass dieses Unternehmen sich wirklich Gedanken darum macht, wie es seinen Mitarbeitern geht, die Arbeitsumstände verbessern möchte.
Ich glaube fest daran, dass solche Besprechungen in irgend einer Weise auf das Gesamte positiv wirken. Auf mich in jedem Fall. Ich bin angekommen, habe meinen Platz schon nach kurzer Zeit gefunden.
Wieder zu Hause schenke ich mir einen Whiskey ein.
Zur Feier des Tages!