Eremit
Lachen
Fluß
Kuß
frieren
ängstlich
makaber
bauen
Lieber Herbert,
hier finde ich endlich die Zeit, dir einen Brief zu schreiben.
Ich will dir sagen, warum ich damals fortging, ohne mich von dir zu verabschieden.
Wie du weißt, war mein Leben völlig aus dem Ruder gelaufen.
Ich ertrug die Menschen einfach nicht mehr.
Ihr selbstgefälliges Verhalten und ihre Doppelmoral hatte mich irgendwann ängstlich werden lassen. So ängstlich, dass ich mich komplett zurück zog und eine Art Schutzwall um mich herum baute. Ihre Ignoranz ließ mich regelrecht frieren, ihr Geschwätz erschauern.
Weißt du noch, wie wir als Kinder am Fluß saßen und gewettet haben, wer den Stein am flachsten werfen konnte? Und wie wir die Ringe gezählt haben, welche die Steine im Wasser hinterließen?
Wie oft haben wir uns verzählt! Unser Lachen war wohl bis in unser Dorf zu hören.
Das waren schöne und unbeschwerte Zeiten.
Du warst mein bester Freund. Bist es immer noch.
Doch als wir älter wurden, und wir mit den Mädchen unsere ersten Küsse austauschten, entfernten wir uns voneinander.
Jeder in eine andere Richtung.
Du konntest von den Menschen nie genug bekommen, suchtest ihre Gesellschaft wann immer es möglich war.
Mit der Zeit wurdest du genauso wie diese Menschen.
Hast ihre üblen Charaktereigenschaften angenommen.
Ihre Scheinheiligkeit.
Hast Ja gesagt, obwohl du Nein meintest.
Hast deinen Mund gehalten, obwohl du hättest schreien müssen.
So makaber es klingen mag, aber damals hätte ich dich am liebsten weg gesperrt. Zu mir gesperrt.
Ich wollte dich nicht los lassen. Wollte an unserer Freundschaft festhalten.
Im Laufe der Zeit aber wurde ich gewahr, dass unsere Verbundenheit nur bestehen bleibt, wenn ich dich gehen lasse.
Wohin auch immer es dich verschlägt.
Ich habe mein Leben als Eremit gewählt. Und ich bin glücklich.
Nimm es mir nicht übel, dass ich dir nicht Adieu gesagt habe.
Du hättest es nicht verstanden.
Leb' wohl mein Freund!
Dein Wilhelm
© Devi59, 4.12. 20