Antoine schaltete die Scheinwerfer aus, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten und sein Herz raste.
„Verdammte Weiber!“, fluchte er und eine erneute Welle von Wut erfasste ihn. Voller Zorn warf er den halbgerauchten Glimmstängel in einer fast perfekten Parabel aus dem Seitenfenster. Hochgradig aggressiv malträtierte er die Gangschaltung und trat das Gaspedal durch. Die Räder drehten auf dem nassen Asphalt durch und wieder stieß er einen lauten, nicht jugendfreien Kraftausdruck aus.
Seine Frances hatte nicht nur die Kette an der Tür vorgelegt, sondern ihm selbige auch vor der Nase zugeknallt. Sie hatte weder seine Art der Entschuldigung hören, noch akzeptieren wollen.
„Hau ab, du Arsch und lass dich hier nie wieder blicken!“, hatte sie ihm entgegengebrüllt.
In seiner Wut hatte Antoine wieder und wieder gegen die Tür getreten – bis der Nachbar von gegenüber durch den Türschlitz mit der Polizei gedroht hatte. Laut fluchend und gegen die Wände tretend, hatte er den Rückzug angetreten. Noch mehr Stress konnte er jetzt nicht gebrauchen. Als Antoine den Eingangsbereich des tristen Plattenbaus verlassen hatte, sah er, dass Frances seine wenigen Sachen aus dem Fenster hinaus und mitten in den nassen Dreck geworfen hatte - auf den Teil der Wiese, wo die „Ich-war`s-nicht-Kackhaufen“ der ach so korrekten Bürgerhunde lagen.
Wie ein Wolf heulte er auf, tobte und schrie, dass Frances froh sein könnte, im vierten Stock und nicht tiefer zu wohnen. Sonst…
Sonst was? Verdammte Scheiße! Dieses Mal war er vielleicht doch zu weit gegangen, ja. Doch sie hätte nicht so dämlich reagieren dürfen. Schließlich hatte sie doch einen echten Kerl und kein nasses Handtuch gewollt, oder etwa nicht? Das sah er jetzt alles nicht mehr ein. Sie wollte zickig sein? Bitte schön! So eine wie sie fand er doch an jeder Ecke!
Laut fluchend sammelte er seine verdreckten Sachen ein und warf sie in den Kofferraum, nicht ohne nochmals eine wüste Drohung zu ihr hochzuschreien.
Blöde Schlampe! Er startete den Motor noch einmal, diesmal mit mehr Rücksicht auf den Wagen und fuhr los in Richtung Straßenstrich. Eine von denen dort würde stellvertretend für Frances Verhalten ihm gegenüber büßen müssen.
Antoine fuhr die lange Reihe von Bordsteinschwalben ab, die sich hier für ein paar Euros anboten. Er wusste, dass kaum eine von ihnen mehr als die üblichen Brocken der Landessprache beherrschte, die es brauchte, um das unmoralische Geschäft abzuschließen. Und auch, dass ihnen allen die Angst vor ihren Zuhältern im Nacken saß. Er war Gott hier und genauso würde er auch richten.
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Derweil saß Frances zitternd, heulend und kauernd wie ein zusammengefallener Hefeteig auf ihrem Bett. Dieses Scheusal von Antoine! Was bildete der sich nur ein? Andere Mütter hatten auch schöne Söhne. So! Dieser Mistkerl würde sie nie wieder anfassen!
Ihr Handy vibrierte. Ein angstvoller Blick - Marie. Mit Erleichterung nahm sie das Gespräch ihrer besten Freundin an.
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Marie rannte die Treppen bis in den 4. Stock hinauf, nicht rastend, obwohl sie bereits seit der 2. Etage außer Puste war. Auf den Fahrstuhl, der mal funktionierte, mal nicht, wollte sie nicht warten. Schon vom letzten Treppenabsatz sah sie die Spuren von Antoines Zorn. Kalte Angst griff nach ihrem Herzen.
Wie mochte Frances aussehen? Für einen Moment vergaß sie ihren Racheplan.
Sie hatte Frances sofort vor ihm gewarnt, doch die hatte es – unter seinem verdorbenen Einfluss - in den völlig falschen Hals bekommen und ihr sogar unterstellt, selbst Interesse an dem schick-schönen Antoine zu haben. M
Marie kannte diesen Typ Mann aus eigener leidvoller Erfahrung. Selbstüberschätzt, ohne Empathie oder Gefühl, nur Besitzdenken, während er alle Freiheiten für sich in Anspruch nahm. Er hatte Frances sogar gezwungen, den Kontakt zu ihr abzubrechen. Er hatte schon gewusst, warum. Doch durch glücklichen Zufall waren sie sich beim Friseur wieder begegnet, keinen Moment zu früh. Heulend waren sie sich in die Arme gefallen. Denn inzwischen hatte auch Frances eine Ahnung von Antoine und seinem Charakter bekommen, auf drastische Weise. Antoines Handeln war derart vorhersehbar, dass in Marie ein Plan reifte. Und heute würde er zum Einsatz kommen.
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Milla war müde und ihr war kalt. Halbnackt in nasskalter Nacht herumzustehen, fremde geile Männer zuckersüß anzulächeln und es anschließend für einen Hungerlohn auf einem Stück dreckigem Styropor in einem stinkenden Hinterhof zu treiben, war kein Spaß. Zudem ihr Lude ihr erst am Morgen gedroht hatte. Auch, wenn sie ein noch so hübsches Näschen hätte, könnte sie es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, und Freier mit Bargeld in der Tasche abzuweisen. Es sei denn, sie würde gern Bekanntschaft mit seiner Faust auf eben diesem Näschen machen. Zur Verdeutlichung, dass er es ernst meinte, hatte er ihr eine gescheuert. Und als sie daraufhin weinte, hatte er sie in seine Arme genommen und fast zärtlich mit ihr gesprochen.
Wenn sie schön brav wäre und ihm heute zur Nacht richtig Kohle liefern würde, dann – so versprach er ihr – dürfte sie künftig im Laufhaus arbeiten.
Hinter den roten Laternen in den Fenstern wäre es warm. Ok, stickig und schwül, aber kein Regen und keine verdammte Kälte. Besser erstinken als erfrieren. Sogar mit einem bequemen Bett in einem Zimmer, welches das ihre sein würde.
Das klang für sie fast wie Paradies. Ihre blaue Wange hatte sie anschließend pastös mit Make-up abgedeckt. Anscheinend standen die Kerle heute auf sie, ihr fehlten nur noch Fünfzig Euro zu dieser Verheißung Bordell. Sie war heute wirklich sehr fleißig gewesen. Der Abend war da, noch hatte sie etwas Zeit. Ihr Handy vibrierte. Sie zündete sich gerade eine Zigarette an als ein Wagen neben ihr hielt.
Mit einem Lächeln und offenherzigen Dekolleté beugte sie sich in das herabgelassene Seitenfenster.
*
Marie nahm Frances in die Arme. Deren Lidstrich war durch die Tränen völlig aufgeweicht und in mehreren schwarzblassen Spuren von den Wimpern bis zum Kinn verlaufen. Sie streichelte ihre Freundin sanft, während sie bestimmt sprach:
„Du bist hier nicht sicher, Liebes, komm pack ein paar Sachen ein, du ziehst vorläufig zu mir. Wenn er es wagt, sich bei uns blicken zu lassen, wird Hektor seine Eier zum Frühstück fressen. Ich brauche nur mit dem Finger zu schnippen.“
Jetzt musste Frances herzlich lachen. Zum ersten Mal seit langem. Wie man einen putzigen kleinen Malteser „Hektor“ nennen konnte, hatte sie nie verstanden. Dankbarkeit, diese Freundin an ihrer Seite zu haben, erfüllte sie. Während sie packte, verschickte Marie eine WApp-Nachricht, bestehend nur aus einem Wort: „Heute.“
*
Antoine begutachtete Milla von allen Seiten und fand, dass sie Frances ähnlich genug sah. In seinem Kopfkino malte er sich seine geplante Strafaktion in allen Farben aus. In Gedanken daran, lächelte er verträumt und fühlte eine mächtige Versteifung zwischen seinen Schenkeln.
Er horchte erst auf als die Frau ihm „Fünfzig Euro“ recht geschäftsmäßig an den Kopf knallte.
WTF? Seit wann herrschten hier derart hohe Preise? Er versuchte zu handeln, verlegte sich aufs betteln und schließlich brüllte er den Straßenstrich zusammen. Was dann passierte – damit hatte Antoine nicht gerechnet.
...
Vielleicht geht es mit den neuen Wörtern weiter