„B.O.C – Kunstalarm in der Straße“
„Kreuz sapperment und verflixt noch eins,“ heiser dröhnt Bertram Otto Clasens Stimme durch seine geheiligten, seit Jahren nicht mehr verlassenen Hallen. Gefolgt von dem satten Klatschen mit dem ein abgetretener Filzpantoffel die TV-Fernbedienung fast erschlägt.
„Und für diesen Möwenschiss zahlt man noch Geld,“ geht die Tirade munter weiter. Der zweite angemuffte Schlappen landet zielsicher auf dem Einschaltknopf des Gerätes. Ein vorwitziger großer Zeh schaut aus löchrigen Wollsocken und verfolgt den Angriffs-Flug des Phönix. Das altersschwache TV-Gerät geht quasi auf Not Aus und die leiernde Stimme des Fernsehsprechers verstummt.
Das morgendliche Programm, unter dem Codewort Frühstücksfernsehen planlos zusammengeschustert, stellt mal wieder jeden geplagten Zuschauer auf eine endlose Geduldsprobe. Genau diese Geduld war nun eben bei Bertram Otto Clasen restlos versiegt. Der ehemalige Baggerführer ist stinkig und sein buschiger Schnurrbart steht auf Sturm.
Nach anderthalb Stunden Schmalz-Berieselung mit der Doku-Soap Flucht aus dem Rosengarten, den im Großformat aufgepoppten Fotos der neuesten Graffiti Schmierkunst auf den Waggons der Donauparkbahn und den fabrikneuesten Meldungen zum quasi erwiesenen Verdacht auf betrügerische Business Veranstaltungen einer obskuren Sekte ist B.O.C mehr als angepisst. Die Welt dreht einfach nur noch am Rad. Auch die stabile Grundlage einer dreiviertel Flasche seines Lieblingslikörs Grand Marnier ändert nichts an seinem hochkochenden Missmut, eher dient der fruchtige Likör noch als Ärger- und Frustbeschleuniger. Also beschließt der rüstige Rentner das TV-Programm mit verdienter Verachtung zu strafen und sich dafür seiner Lieblingsbeschäftigung, der intensiven Straßenbeobachtung hinzugeben.
Der erste Passant welcher ihm vors Auge läuft ist sein alter Lieblings-Hassmieter Rickmann, welcher als devoter und hirntoter Lustsklave seit Wochen am Gängelband der hyperaktiven Sexistin Irene Steltzmann ein sehr seltsames Schauspiel bietet. Das Gespött der Straße ist er geworden, obwohl er ja schon immer die Duster Kerze vom Kuchen war, wenigstens nach Bertrams Meinung. Das seltsame Gehabe von Rickmann ist immer wieder ein gewichtiger Anlass um sofort eine Druckbetankung alla Marnier in Angriff zu nehmen. Dazu die immerwährende vierunddreißigste sexuelle Revolution der alten Wachtel welche ihren Gammelfleisch Sonderangebotskörper wirklich jedem männlichen Wesen geradezu aufdrängt. Nach wie vor eine deutliche Gefährdung des Friedens in B.O.Cs trauter Wohnstraße.
Auch Bertram selbst war schon Ziel ihrer unheimlichen Gelüste, aber dank des Zuzugs des Leberecht Kraftschild bot sich ein neues und reizvolleres Zielobjekt dem sich die gesammelte Steltzmannische Konzentration sofort zuwandte.
„Und nun ist es der Rickmann“, ein schadenfrohes Grinsen zieht sich über Bertrams Gesicht und ein dreifacher Marnier verschafft wärmendes Wohlbefinden. Aber zurück zum Geschehen und damit zu Rickmann. Selbiger zieht übrigens gerade einen hölzernen Bollerwagen über die Straße. Darin stapeln sich mehrere blaue Plastiksackerl mit unbekanntem Inhalt. Rickmann selbst glänzt im Anthrazitfarbigem Stresemannanzug, mit seitlich angebrachten weißen Nadelstreifen und blinkenden Lederslippern. Eine japanische Billigkamera baumelt an seinem Hals.
Gespannt folgt B.O.Cs Bundeswehr Feldstecher dem kuriosen Geschehen. Unweit der Bushaltestelle findet Vollpfosten Rickmann wohl die, für sein Vorhaben, geeignete Örtlichkeit. An den Ästen einer Buche wird umständlich ein Plakat befestigt. Nachdem der Kampf gegen Wind und Wetter gewonnen ist kann Bertram die blutrote Inschrift des Pamphletes lesen.
Hochwertige Straßenkunst präsentiert die Gruppe der freischaffenden Kunstjünger
„Ach du grüne Scheiße, der hat doch echt voll den Durchzug in der Matschbirne,“ grummelt Bertram vor sich hin. Sein Bleistift rast im Höchsttempo über das heutige Tagesblatt in seiner geheiligten Kladde. Dieses Monumentalerlebnis muss dokumentiert werden. Die Marnierflasche kommt zum Dauereinsatz, sowas will verarbeitet werden und der Likör bietet entsprechenden Trost und Beistand.
Mit leicht verschwommenem Blick beobachtet B.O.C ein meteorologisches Wunder, mitten im August Schnee. Locker aufgeschüttelter Kunstschnee aus den Sackerln und dekorativ auf dem Trottoir verteilt.
Ein doppelter Marnier zur direkten Schockbekämpfung. Schnell den Stift neu angespitzt, weitere kulturelle Highlights sind in Bälde zu erwarten.
Eine dezente Lage grün bedeckt teilweise den Schnee, Brennnesseln sind das wohl, frisch abgeschnitten am Stadtwaldrand. B.O.C traut seinen Augen nicht, zum Feintuning besser noch ein Schlückchen.
Dann naht sie, die absolute Katastrophe, grazil und erhaben wie eine strauchelnde Wald Elfe, schwebt, taumelt, stolpert sie heran, die mehr als überreife Endsiebzigerin Irene Steltzmann. 58 Kilo faltiges Gammelfleisch, wie immer im anstrengenden sexy Outfit.
„jetzt schlägt es dreizehn,“ wettert Bertram Otto vor sich hin und gönnt sich noch einen dreifachen Seelenschmeichler.
Schwarze, durchscheinende Dessous, gnadenlos Alter und Schamlosigkeit entblößend. Strapse und Netz-Nylons umwoben von einem Hauch von Nichts, einem Stola förmigen Tüll Fetzen. Hochtoupierte violette Langhaarperücke deren wirre Strähnen mit den faltigen Brüsten ergebnislos gegen die Schwerkraft ankämpfen. Das gesamte Unheil naht auf Stöckelschuhen mit Absätzen hoch wie Brückenpfeiler. Das ganze Elend strauchelt auf die weiß grüne Fläche zu und statt elegant zu Boden zu sinken, wie vielleicht geplant, geschieht das ganze eher als unkontrollierter Sturzflug.
Rickmann der Chaot und Hobbykünstler entrollt flugs ein zweites Transparent und in einem flammenden Orange wird der Titel des Stilllebens präsentiert.
Stilvolle Erotik auf Minze und Schnee
B.O.C fällt so einiges aus dem Gesicht während der letzte Schluck Marnier nahezu wirkungslos in seiner immer enger werdenden Kehle verrinnt.
„Götterdämmerung naht,“ stammelt Bertram leise vor sich hin, derweil er verzweifelt versucht die unfassbaren Vorkommnisse für die werte Nachwelt dokumentarisch festzuhalten.
Der Bleistift zerbricht mit einem harten Knack, kurz bevor ein gnädiger, Alkohol geschwängerter Schwindel dem grausigen Spiel ein Ende macht!
Stille kehrt ein auf dem Beobachtungspunkt. Entgeisterte Passanten diskutieren erregt den Wert der Straßenkunst.
Kamasutra 27.01.2021