Alt zu werden ist einfach Scheiße
Es gab vieles, das man Anton vorwerfen konnte, aber daß es einem mit ihm jemals fad werden könnte, das stand niemals zu befürchten. Eigentlich hätte ich es meistens lieber ruhiger gehabt - aber daß mir dieser Wunsch mittlerweile dermaßen umfassend erfüllt wurde, daß niemand mehr auch nur irgendwas darf und die Welt zunehmend ins Monochrome abdriftet, hätt's jetzt auch nicht gebraucht. Man muß wirklich sehr aufpassen, was man sich wünscht, es geht immer in Erfüllung - allerdings mangels Präzision beim Wünschen sehr selten so, wie man es gerne gehabt hätte.
Damals jedoch, als Anton noch lebte und die Welt bunt war, mußte man stets auf das Ärgste gefaßt sein, ungefähr so wie wenn man mit einem Kleinkind unterwegs ist, das gerade entdeckt hat, daß es sehr schnell laufen und sich auch prima verstecken kann, besonders wenn es Mutti eilig hat und echt keine Zeit für dumme Spielchen.
Es ist kein Geheimnis, daß ich mich sehr gerne in Wien aufhalte. Mit der Zeit bildeten sich dabei einige Rituale heraus, eins davon war, daß ich mir in einem Bioladen im Dritten, Nähe Rochusplatz, ein Blätterteiggebäck mit Spinatfüllung kaufte und damit in den Donaupark hinauffuhr, um es dort genüßlich zu verspeisen. Logischer wäre es gewesen, damit in den Prater rüberzufahren oder in den Augarten, aber ich bin eine Frau, ich muß nicht logisch handeln. Spinattaschen gehörten im Donaupark verspeist und Weintrauben vom Viktor-Adler-Markt auf dem Zentralfriedhof, so einfach war das.
Nachdem ich nicht nur unlogisch bin sondern mir auch mein kindliches Gemüt entgegen aller Anfechtungen bewahren konnte, ist selbstverständlich auch darauf zu achten, bei jedem Besuch im Park mit der Donauparkbahn zu fahren. Ich liebe diese kleinen Bähnchen, und so eine Fahrt gehörte in jeder meiner Lieblingsstädte zum Pflichtprogramm. Ob Stuttgart, Karlsruhe, Frankfurt oder Wien: Bähnlefahren mußte sein.
Jetzt wollte der Anton natürlich immer mit auf meine Reisen nachdem er zu mir gezogen war, und ich hab ihn prinzipiell auch gerne mitgenommen. Geteilte Freude ist doppelte Freude, wie der Volksmund so schön sagt, aber man braucht halt auch gute Nerven wenn man mit anderen Leuten unterwegs ist, und meine Nerven sind noch nie besonders stabil gewesen.
Wir saßen also mit einer ausgesuchten Gruppe von Stofftieren - meistens waren Fredi und Herr Umnus dabei, manchmal auch Fernwauz oder Antons Schlafbär, welche heute allerdings daheim bleiben wollten - in der Donauparkbahn, welche gemütlich vor sich hinratternd das Gelände durchpflügte (zu schnell durfte der Lokführer nicht fahren, da man sonst NIEMALS auch nur annähernd an die versprochenen 15 Minuten Fahrzeit herangekommen wäre) und genossen die Aussicht. Bei der Haltestelle Rosenschau bleibt der Zug meist etwas länger stehen, da hier die meisten Leute zusteigen und es ein Zeitl dauert, bis die Billets alle kontrolliert sind. Wir also ein bissl in der Gegend umeinandergeschaut, in Richtung Rosengarten natürlich, die Hecke auf der anderen Seite ist eher unergiebig, und der Rosengarten war damals noch recht neu, erst vor kurzem gestaltet worden, und somit auch für mich interessant.
'Schau dir des an!', flüsterte Anton mir auf einmal hektisch zu. 'Da drüben, die zwei auf'm Bankerl, die machen business, I pack's ned!'
'Wie kommsch jetzt da drauf?', fragte ich verwundert. Ich sah lediglich zwei junge Burschen dasitzen, die sich unterhielten.
'Weil des Plastiksackerl jetzt auf einmal unter dem da rechts steht, vorher stand's links.'
'Ja, der hat ihm halt vielleicht die Aufgab bracht, oder sein Turnzeug, das er vergessen hatte, oder ein paar DVDs oder so???' versuchte ich, Antons Verdacht zu entkräften und die Ehre der beiden jungen Männer zu retten.
'Naa,', blökte Anton fachmännisch, 'I hab des genau g'sehn wie der eine dem anderen ein piece unter die Nase g'halten hat und dann hams beide dran g'rochen und grinst. Also offensichtlicher geht's nimmer. Und des mitten im Park!' Empört stierte er weiter in Richtung Bankerl und dachte offenbar verbittert an all die Jahre, die er bereits auf Staatskosten in diversen bayerischen Gitterpensionen hatte verbringen dürfen, obwohl er sich niemals dermaßen fahrlässig verhalten hatte.
Die beiden Burschen standen jetzt auf, schlenderten beiläufig nach hinten weg, trennten sich, der eine wandte nach rechts in Richtung Haltestelle Alte Donau, während der andere das Plastiksackerl beiläufig ins Gebüsch bei den Springbrunnen stellte und dann in die entgegengesetzte Richtung davonmarschierte.
Mit einem Sprung war Anton plötzlich aus dem bereits anfahrenden Zug gehechtet und sprintete davon. Bevor ich noch unsere Sachen sowie Fredi und Herrn Umnus aufsammeln und die Verfolgung aufnehmen konnte, hatte der Zug an Fahrt aufgenommen und ich mußte hilflos sitzenbleiben. Nie war mir die Strecke bis zum Donauturm so lange vorgekommen. Es bedurfte nicht viel an Phantasie um zu erraten, was Anton vorhatte. In einer fremden Stadt, ohne connections, was zum Henker wollte er mit seiner Beute anfangen? Und vor allem, wozu? Wir hatten doch genug Geld dabei!
Nervös und stocksgrantig starrte ich in die Brennesseln am Wegrand und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. In einem fremden Land eine Straftat zu begehen, aus purer Gedankenlosigkeit, das war SO typisch für Anton, nichts als Ärger hatte man, das war jetzt aber ENDGÜLTIG das letzte Mal, daß ich mit ihm weggefahren war und was sollte ich jetzt nur machen und wo war er überhaupt, wo sollte ich ihn suchen? Bei seinem Orientierungsvermögen würde er niemals alleine zu unserer Wohnung beim Reumannplatz zurückfinden, wo er nicht einmal in der Lage war, von dort mehr oder weniger gradaus die Davidgasse entlang bis zur Tankstelle zu gehen die einen Sonntags-Billa beinhaltete.
Kaum war der Zug endlich beim Turm angelangt, stolperte ich auch schon heraus und hetzte quer durch den Park Richtung Rosengarten, wo ich Anton das letzte Mal gesehen hatte. Glücklicherweise mußte ich nicht lange suchen: Bereits bei der Graffitiwand wo die Frau mit dem Schirm drauf ist, saß er von einem Ohr zum anderen grinsend, und begriff einmal wieder überhaupt nicht, wieso ich mich so aufregte.
'Schpinnsch jetzt? Was sollt I mit dene ihrm Dope?', fragte er auf meine Vorhaltungen wegen seiner plötzlichen Flucht völlig verständnislos. 'I bin lediglich dem Typen nach und hab ihn g'fragt, was er in dem Sackl drin hat und ob's da eventuell mehr davon ... und er hat mir a kleins Probepiece abzwackt und I hab mir au scho a bissl in mein Tschick einebröselt, I kann dir sagen, des haut nei! Schad, daß du nix mehr vertragsch! Und was is, geh mer was essen? I hätt grad irgendwie Hunger ...'
Entnervt ließ ich mich auf einen Sitzplatz fallen, schloß erschöpft die Augen und fragte mich, ob ich tatsächlich krank im Kopf war und daher überall Verbrechen und Katastrophen witterte wie meine Psychologen mir ständig einzureden versuchten. Früher hätte ich einfach mitgeraucht, wir hätten uns gemeinsam totgelacht und einen schönen Tag verbracht. Alt zu werden ist einfach Scheiße!