KI
„Ein echter Techniker löst jedes Problem mit Technik. Die wirklich guten Techniker lösen sogar Probleme, die es noch gar nicht gibt!“
Jan hatte diesen Leitsatz seines Dozenten im Fach „Künstliche Intelligenz“ verinnerlicht wie ein Priester das Evangelium. Seine Eigentumswohnung mit angeschlossenem Gartenquadrat war in den letzten Jahren zu einem Meisterwerk der computergesteuerten Faulheit herangereift. Sobald die ersten Maiglöckchen keck ihre Köpfe im englischen Rasen zum Himmel streckten, sauste der elektrische Rasenmäher los, um jedes Leben oberhalb der Zwei-Zentimeter-Marke zu vernichten. Die Zuchtrosen, die sich zur Begrenzung seiner Terrasse an einem Gitter emporrankten, wurden bestäubt mittels nanoelektronischer Wunderwerke im Eigenbau, die im gezielten Hummelflug nur bevorzugte Bestäubungsopfer beglückten.
Sein morgendliches Rührei wurde von der Pfanne gepfeffert und gesalzen, die Zuckerdose fuhr automatisch über den Tisch, sobald eine Tasse Kaffee – wahlweise auch Tee - eingeschenkt wurde.
Jans Basteltrieb kannte keine Grenzen. Er tüftelte an einem Brillenetui, welches die Reinigung der Brille übernehmen konnte und regelmäßig an einen Termin beim Optiker erinnerte. Sein Kühlschrank berichtete ihm täglich, welche Lebensmittel zur Neige gingen oder kurz vorm Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums waren. Zur Zeit schrieb er an einem Programm zur Erkennung molekularer Strukturen von Lebensmitteln, egal ob verpackt oder unverpackt. Damit wollte er erreichen, dass der Kühlschrank positive Signale geben konnte, welcher Joghurt noch genießbar war, um das Mindesthaltbarkeitsdatum mit gutem Gewissen hintergehen zu können. Eine einfache Geruchsprobe genügte ihm nicht.
Jan war glücklich in seinem digitalisierten Universum. Er fühlte sich nicht wirklich einsam, denn zuhause redete er den ganzen Tag:
„Computer – Licht heller!“
„Computer – Kaffeemaschine an!“
„Computer – Toilette spülen!“
„Computer – Männerwaschprogramm 40 Grad!“
Dabei gab ihm sein Computer durchaus Antworten:
„Licht heller – am Lesesessel oder am Löttisch?“
„Kaffee – eine oder zwei Tassen?“
„Groß oder klein?“
„Bitte die weißen T-Shirts aussortieren!“
Trotzdem wünschte er sich hin und wieder eine Frau an seiner Seite. Auch dafür hatte er ein Programm geschrieben. Und heute war es so weit:
Er lud Lena aus dem Computerspieleclub dazu ein, nach dem wöchentlichen Spielturnier mit zu ihm zu kommen, um einen herrlichen neuen Rotwein zu kosten, den er bei einem lokalen Winzer entdeckt hatte.
Lena willigte entzückt ein, denn sie war schon lange neugierig auf Jans Wohnung. Allerlei Mythen und krude Erzählungen rankten sich um seine Technikhöhle, die bisher noch niemand aus dem Studienkreis von innen zu sehen bekam. Sie fand die Idee wirklich aufregend und fast wäre sie vor Schreck umgefallen, als er vor Nervosität stotternd seine Einladung aussprach, während sie zitternd ihre Nickelbrille zurecht rückte.
Der Abend war schwül, die Kirchenglocken schlugen neun mal – es war genau 21.00 Uhr, als sie gemeinsam seine Wohnung betraten. Die Tür öffneten sich nach dem Ablesen seiner Iris. Nachdem er Lena hereingebeten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprach er ein Kommando aus:
„Computer – Gästeprogramm starten!“
„Wie viele Gäste?“ fragte die Stimme aus dem Off.
„Wir sind zu zweit.“
Sofort erklang aus den unsichtbar verbauten Lautsprechern leise säuselnde Fahrstuhlmusik. Aus dem Inneren des niedrigen Wohnzimmertisches tauchten, wie von Geisterhand gesteuert, eine Flasche Wein und zwei langstielige Weingläser auf. Bereitgestellte Kerzen entzündeten sich von selbst, sowohl auf dem Tisch, als auch in den Fenstern. Angenehme Düfte von Sandelholz und Lavendel verbreiteten sich im Raum. Vor Lenas Füßen entrollte sich ein roter Teppich, der ihr den Weg zum Chaiselongue wies.
„Wow“, staunte Lena mit heruntergeklappter Kinnlade.
„Gefällt es dir?“, fragte Jan unsicher.
Er verkörperte das Klischee des Computer-Nerds. Technisch ein Ass, sozial die totale Niete. Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gleich null. Er konnte sich nicht sicher sein, ob alle seine Computerprogramme wirklich die Wünsche einer Frau erfüllen würden, denn sein Wissen über Liebe, Leben und Sex stammte nur aus theoretischen Quellen.
„Phantastisch“, jauchzte Lena mit ekstatischem Blick, „lass' es uns gemütlich machen auf dem Sofa!“
„O...k...k...kay“, stotterte Jan, „ich hole nur kurz in der Küche ein paar Snacks.“
Lena ließ sich auf das Sofa fallen und staunte mit runzeliger Stirn über die Weinflasche, die bereits geöffnet war. Voller Vorfreude schenkte sie beide Gläser ein.
Währenddessen holte Jan die bereitgestellten, auf einem großen Teller angerichteten Appetithappen aus dem Kühlschrank und flüsterte in ein verstecktes Mikrofon:
„Computer – Erotikprogramm starten!“
„Für ein, zwei oder mehr Personen?“, flüsterte die Stimme, nur in der Küche hörbar, zurück.
„Wir sind zu zweit!“, wisperte Jan leicht genervt.
„Homo oder hetero?“
„Unser Gast ist eine Frau!“
„Also hetero – Programm startet in zwei Minuten!“
Jan stellte die Snacks auf den Tisch.
„Hmm, sieht lecker aus“, bemerkte Lena lüstern und griff beherzt zu.
„Lass' es Dir schmecken!“, entgegnete Jan und rieb sich aufgeregt die Beine, nachdem er neben Lena Platz genommen hatte.
Die Musik wechselte zu Marije Westervelt's „Its a sunrise“. Ein zarter, weiblicher Gesang, der stets wirkt wie ein Samenzieher, setzte ein.
Lena hielt das Weinglas in die Höhe und schaute Jan verheißungsvoll an. Geistesgegenwärtig ergriff auch er sein Glas und stieß mit ihr an:
„Freut mich, dass du hier bist!“
„Gerne“, entgegnete Lena, „ich wollte ja schon immer mal wissen ...“
Lena löcherte Jan mit Fragen. Mit technischen Fragen. Das Gespräch entwickelte sich so erotisch wie ein belegtes Brot mit Rohmilchkäse in der Sommersonne. Lena begann, nicht ohne wachsende Begeisterung, von ihren eigenen Studienarbeiten zu erzählen:
„ ... Forschungsthemen aus dem Internet der Dinge, also dem IoT, die es ermöglichen, sensorisierte eingebettete Systeme mit dem Internet zu verbinden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Verarbeitung von IoT-Daten in volatilen Szenarien und verwandten Themen liegt. Szenarien wie die Nutzung von Nebel- und Edge-Computing in intelligenten Systemen, die Koordination von IoT-Ressourcen unter bestimmten Bedingungen …“
Jan begann zu grollen, während das Sofa langsam, kaum spürbar, sein Position in Richtung Beischlafstellung änderte. Die akustische Anlage spielte „The Spirit Carries On Score“ von Dream Theater. Jan hatte es immerhin geschafft, einen Arm um Lena zu legen, doch dieser war inzwischen so eingeschlafen, dass er sich anfühlte wie der Pelz einer toten Katze.
„ … mit dem IoT verbundenen Geräte und Maschinen reichen von Wearables wie Smartwatches bis hin zu RFID-Inventarisierungschips. IoT-konforme Geräte kommunizieren über Netzwerke oder Cloud-basierte Plattformen ...“
Lena fachsimpelte weiter vor sich hin. Die Weinflasche hatte sie inzwischen komplett alleine geleert, der Tisch hatte sofort eine neue, bereits geöffnete Flasche geliefert.
Die Musik brach ab.
Sanfte elektronische Beats endeten in einem weißen Rauschen. Aus den versteckten Lautsprechern ertönte ein verlegenes Räuspern:
„Entschuldigung? Müsstet ihr nicht längst bei ersten Küssen und dem stückweise Entledigen von überflüssigen Kleidungsstücken sein? Mir geht die romantische Musik aus.“
Das Sofa begann sanft zu vibrieren. Ein Massageprogramm. Lena wirkte plötzlich verunsichert.
„Ist es das, was du wolltest?“, fragte sie Jan.
„Was?“
Na … du weißt schon ...“
Misstrauisch blickte sie sich um. War vielleicht im Thujabaum aus Plastik, der in der Zimmerecke stand, eine Kamera versteckt?
„Du willst doch hier nicht einen Porno drehen, um ihn dann im Netz zu veröffentlichen?“
Besorgt schaute Lena den verwunderten Jan an.
„Porno wird gestartet“, antwortete die Stimme aus dem Off kalt.
Der Bildschirm startete und zeigte eindeutige Szenen, die in ulkigen Filmen der siebziger Jahre gerne mit explodierenden Vulkanen, rasenden Zügen oder startenden Raketen angedeutet wurden. Nur waren diese echt und zeigten überlebensgroße Genitalien. Lautes Stöhnen verdrehte Passanten vor Jans Wohnung die Köpfe.
Ein Schublade des Wohnzimmertisches öffnete sich. Darin lagen mehrere Dildos und Vibratoren, die bereits summten und brummten, als befänden sie sich in einem Gesangswettbewerb für Gehörlose.
„Abbruch – Computer – Abbruch!“, schrie Jan panisch in den Raum.
„Ein Coitus interruptus ist nicht vorgesehen, bitte benutzt die bereit gestellten Kondome.“
Aus einer bisher unbemerkten Ritze im Chaiselongue schob sich ein einzelnes, noch verpacktes Kondom.
„Na toll, dass habt ihr euch ja fein ausgedacht.“ Lena war sehr entrüstet: „Soll ich jetzt noch die Beine breit machen und dir den Gummi mit dem Mund überziehen?“
„Keine schlechte Idee“, frohlockte die Computerstimme, „ich werde die Idee in das Programm integrieren.“
Jans Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Pflaume an, während sich Lena brüsk aus seinem mittlerweile komplett abgestorbenen Arm befreite.
„Computer?“, rief Lena fragend in den Raum.
„Ja?“
„Fick dich ins Knie!“
Während Lena die Tür mit Wucht hinter sich zu warf, entfuhr dem Sofa ein summender Vibrator, der die Innenseiten von Jans linken Knie streichelte.
„Computer – Programm löschen!“
Jan wurde nie wieder an der Uni gesehen.
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Ihr Lieben:
Ich komme hier viel zu wenig zum Lesen. Trotz Lockdown habe ich genug zu tun.
So geht es mir auch mit dem Schreiben. Eine Geschichte angefangen mit 8 Wörtern, aber nicht fertig geworden. Dann also mit weiteren 8 Wörtern fertig gestellt. Insgesamt waren es diese:
Maiglöckchen
Hummelflug
gepfeffert
umgefallen
aufregend
starten
Zuckerdose
Etui
schwül
Kirchenglocken
runzelig
rollen
Chaiselongue
ekstatisch
grollen
Thujabaum
Und wenn ich die Zeit finde, lese ich auch gern alle Eure tollen Geschichten. Nach wie vor ist die Kurzgeschichtengruppe die schönste Ecke des JC.