Sommernacht
Als die Wolken weiterzogen, zeigte sich ein blutroter, riesiger Mond über den Baumwipfeln. Die Kirchenglocken läuteten, einmal, zweimal. Es war still im nächtlichen Park, nachdem auch die Dealer nachhause gegangen waren. In dieser lauen Sommernacht war die Luft noch immer schwer und feucht von der schwülen Hitze des Tages. Die Grillen zirpten, ein Käuzchen rief. Oben auf der Lichtung, aus dem dichten Kreis der Thujabäume, drang ein Stöhnen, erst leise, dann immer lauter.
Ein Bett auf steinigem Grund, zwischen Baumwurzeln und Gras ist nun mal keine Chaiselongue, doch Sanya spürte die Steinchen nicht, die sich in ihren Rücken bohrten. Ihr Körper bebte und zuckte, innen und außen. Sie schlang ihre Beine fester um Amirs breiten Rücken und versank in Wellen von ekstatischen Kontraktionen. Dieses Nachbeben, wenn sie sich ihm ganz hingegeben hatte. Postkoitales Entzücken.
Mein Herz zerspringt vor Liebe! Ich bin dein, Amir. Und bald sind wir nicht mehr allein.
Amir hob den Kopf und lauschte. Schweißperlen rannen über sein Gesicht. Er bewegte sich ein wenig und sah seine Geliebte zärtlich an, als ihre Finger langsam an seinem sehnigen Hals entlang strichen. Er rollte sich vorsichtig auf die Seite und zog sie mit sich ins feuchte Gras. Ihr Liebesnest inmitten hoher Thujabäume, noch vor einer halben Stunde undurchdringlich und nicht einsehbar, war jetzt hell erleuchtet. Amir streichelte Sanyas weichen Bauch, ihre samtene Haut, die feucht im Mondlicht glänzte.
Da war wieder dieses Geräusch! Ein Schnarren, ein Knarzen, eine Bewegung im Gebüsch?
Sanya schnurrte unter Amirs Berührung und öffnete die Augen. Ihre Blicke trafen sich. Amir hob den Zeigefinger an die Lippen und stand leise auf, zog sich mit raschen Bewegungen die Jeans an und entfernte sich ein paar Schritte zum Rand der Baumgruppe. Wieder war ein Rascheln zu hören, dann ein unterdrücktes Fluchen. Mit einem einzigen, schnellen Handgriff hatte Amir den Spanner am Schlawittchen gepackt und zerrte ihn aus dem Gebüsch heraus ins Mondlicht. „Aua! Verflucht, lass mich los!“
Sanya streifte sich das Kleid herunter und kam schnell auf ihre Beine. Irgendwo musste noch ihr Slip liegen, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie nahm ihren Rucksack und trat aus der Thujahöhle hinaus zu Samir, der einen kleinen, schmächtigen Mann in den Polizeigriff genommen hatte.
„Autsch, verdammt! Lass mich los! Bitte!“ jammerte der Mann, das pockennarbige Gesicht schmerzverzerrt. Der Spanner, der verzweifelt versuchte, sich aus Amirs Pranken zu befreien, war kein halbwüchsiger Teenager, wie seine Statur vermuten ließ, sondern ein kleingewachsener Mann in seinen Dreißigern.
Amir lockerte seinen Griff etwas und knurrte: „Gib mir dein Handy, Freundchen, aber subito!“ Der Mann erstarrte. „Na, los, wird’s bald oder muss ich nachhelfen?“ Amir setzte sein finsterstes Gesicht auf und Sanya hätte fast laut gelacht. Ihr Liebster war ein so sanftmütiger Mensch, doch der seine muskulöse Statur, sein kahler Schädel mit den buschigen Augenbrauen über den schrägen dunklen Augen verliehen ihm ein diabolisches Aussehen. Sein Vater stammte aus Madagaskar und Amir erzählte gerne wilde Geschichten über seine Vorfahren, die als Freibeuter über die Meere gefahren waren.
Dem Spanner brach der Schweiß aus. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, ein älteres Nokia-Modell. Amir starrte auf das Display und beendete die laufende Videoaufnahme. Er schüttelte angewidert den Kopf und packte den Mann fester am Arm. „Was hattest du mit dem Video vor, du Wurm?“ Der Mann schüttelte stumm den Kopf. Sanya betrachtete ihn stirnrunzelnd. Sie kannte ihn, sie hatte ihn schon einmal gesehen, doch wo?
Die folgenden Sekunden waren wie ein Flashback. Ihre Geschichte entrollte sich rückwärts, die Ereignisse der letzten Monate flimmerten im Sekundentakt durch ihren Kopf. Die Katastrophe begann mit dem Mann, den Sanya nicht heiraten wollte. Ihr grollender, wütender Vater, der sie ins Gesicht schlug. Ihre Flucht, Hals über Kopf zum Flughafen. Sie stand in der Warteschlange am Check-in-Schalter. Sanya war nervös und sah sich hektisch nach allen Seiten um. Jetzt durfte einfach nichts mehr schiefgehen!
Und da war es! In diesem Moment hatte sie ihn gesehen! Einige Meter weiter, hinter der Absperrung, stand dieser kleine pockennarbige Mann und starrte sie an. Er hielt ein Handy in der Hand, das in diesem Moment zu klingeln begann.
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Danke dir, liebe @*****a94, für den Spaziergang im Park und für die Inspiration!