"ER"
Unscheinbar und einsam geht ER durch die Nacht. Schummrig leuchtende Straßenlaternen erhellen notdürftig seinen Weg. Regennass glänzt der Asphalt und vorbeizischende Autos hüllen ihn in einen dünnen Sprühschleier aufgewühlten Regenwassers. Wie ein feiner Vorhang fällt seit Stunden der leichte Landregen vom Himmel, Pfützen schimmern überall, garnieren den Boden wie Schokoladenstreusel eine Buttercremetorte. Scheinwerferlicht erfasst den einsamen Mann und wirft seinen Schatten, einem verzerrten
Fabelwesen gleich, an die weiß getünchte Hauswand des vor ihm aufragenden Mietblocks. Aber nichts von alldem registriert der einsame Wanderer im monströsen
Dschungel der Großstadt. Auch nicht die verwunderten Blicke die hinter manch einer Gardine hervorlugen und sich fragen, warum da jemand pitschnass durch den, seit Stunden andauernden, Regen läuft. Der Einsame ist abgetaucht in seiner eigenen Gedankenwelt und nimmt seine Umgebung kaum noch wahr. Nicht nur das
Schlüsselloch zu seiner Seele hat er seinen Mitmenschen geöffnet, nein eher
splitterfasernackt hat ER sich offenbart und sich damit sehr verwundbar hingestellt. Den Menschen vertraut, den ewigen
Butzemann aus des verstorbenen Großvaters Erzählungen im Kindesalter hinter sich gelassen. Und nun, ER hadert mit sich und seinem Leben, ER fragt sich ob er alles richtig macht und gemacht hat. Vergangenheit und Gegenwart, vieles bedrückt ihn, quetscht mit eiserner Faust. Düstere Schatten
schleichen um ihn, verjagen ihn von zuhause und treiben ihn hinaus. Nur um dort hinter jeder Hausecke zu lauern, hinter jedem Baum, immer wieder aufs Neue.
Sein langer, vollkommen durchnässter Trenchcoat schlackert um nasse Hosenbeine, schwarze Halbschuhe, einst frisch poliert glänzend, verkünden ihren quietschenden Protest bei jedem Schritt. ER fühlt sich im Kampf, mit sich selbst, mit der Umwelt. Ein alter Soldat, müde von tausend Schlachten und bar jeder Hoffnung dass es irgendwann einmal aufhört. Verloren hat ER vieles, die stürmischen Gefilde des Lebens, die karstigen Gestade und Klippen des Alltags forderten und fordern immer noch ihren unbarmherzigen Tribut. Verwirrt bleibt ER stehen, verhält in einer mumienhaften Steifheit. Regentropfen rinnen aus seinem Haar und durchnässen seinen Kragen. ER blickt erwartungsvoll um sich, sehnsüchtig wartend auf die
Lebenszeichen der Hoffnung. Doch es bleibt still und die lange Straßenflucht versinkt im stärker werdenden Regen und im mitternächtlichen Dunkel. Aber dort, weit vorne im Kiosk, an der großen Kreuzung, brennt noch heimeliges Licht. Ob ER dort noch jemanden trifft, eine artverwandte Seele vielleicht? Oder einfach noch einen schnellen Snack, der die fünf Riegel
Bio-Schokolade , seine einzige Mahlzeit heute etwas auffrischt. Oder zumindest ein kühles Bier um die Narben von seiner Seele zu waschen. Beschleunigt und energisch wirkt sein Schritt, als ER jetzt zielstrebig auf die voraus liegende Oase zusteuert, und doch greifen wieder eisige Finger an sein Herz, überziehen es mit einer dünnen Schicht kalten Kristalls!
Kamasutra 10.12.2018