Feenstaub und Engelsdunst
„Ich habe sie gesehen, Feen in Militärstiefeln. Du musst mir glaube, dass ist keine Lüge, ich habe sie mit meinen eigenen zwei Augen gesehen!“Wir hockten bei einer halb vertrockneten Käseplatte beieinander im Speisesaal des Sanatoriums. Vor den breiten Panoramafenstern ging ein sensationeller Platzregen nieder, der sämtliches Leben, egal ob menschlich oder tierisch, aus den letzten Winkeln des angrenzenden Stadtparks vertrieb.
„Echt hey, ich habe sie gesehen. Feen, die Stiefel trugen …“
Natürlich misstraute ich ihm. So wie ich ihm immer misstraute. Seit meinem zwölften Geburtstag, an dem er mir versprach, mich an einem Joint ziehen zu lassen, der sich dann als Fake-Zigarette, gefüllt mit Muskatnuss und Fasern der Bananenschale entpuppte. Zwar wurde mir schwindelig und komisch zumute, aber ich konnte bis heute nicht erfahren, von was.
„Opa, was meinst du, gehen wir mal zusammen ins Kino?“, fragte ich ihn in einem Moment der Ruhe, in dem er einfach mal die Klappe hielt und gedankenverloren in den fadenartigen Regen starrte. Vielleicht nicht gedankenverloren, aber verstandsverloren.
„Opa?“
„Ja, ja, ja ...“ wischte er meinem Gedanken hinterher, mit einer Handbewegung, als müsste er einen Schwarm indischer Moskitos vertreiben oder den Rauch einer Zigarette vertreiben, deren Konsum ihm hier im Speisesaal nicht erlaubt war, auch wenn er sich schon einige Male dieser Regel widersetzt hatte.
„Nein Junge, warum soll ich mir Filme mit einem Mörder ansehen? Ich habe schon mehr Menschen sterben sehen, also du in deinen Filmen. Die Brutalität des Lebens ist grausamer als jeder Krimi!“
Damit war Kino vom Tisch. Mit Opa zu diskutieren, hatte ich schon lange aufgegeben. Wahrscheinlich würden wir am Nachmittag wieder in einer kleine Winzerei landen, wo ich mir seine weinseligen Ausflüge in die Vergangenheit anhören durfte. Das Schlimme daran: Ich hatte im Grunde meines Herzens nichts dagegen. Also half ich ihm, nach einem umständlichen Toilettengang, in seinen Rollstuhl, sorgsam darauf bedacht, dass die alte Kutte nicht verrutschte und nicht schief über seinem viel zu dürren, ausgemergelten Körper hing. Der Jeansstoff war speckig und dem Alter entsprechend abgewetzt. Der alte Fetzen stank nach 60 Jahren Alkohol, Drogen und schmutzigen Sex.
Nach einem kurzen Spaziergang, der stets für Aufsehen sorgte, weil es sich mein Opa nicht nehmen ließ, lautstarke Heavy-Metal-Nummern über den transportablen Bluetooth-Lautsprecher abzuspielen, landeten wir in der „Eselsburg“. Eine kleine Weinstube mit einer seltsamen Sammlung von Gemälden und Zeichnungen an den Wänden. Manche davon so sündig, dass sie einem frommen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben könnten – aber wo gibt es noch fromme Menschen?
Opa erzählte mal wieder aus seinen besten Jahren. Den Rock´n Roll, den er miterleben durfte. Zeiten der freien Liebe. Karriere als Musiker, Unternehmer als Tourmanager. Wie er meine Oma, Gott habe sie selig, beim öffentlichen Duschen nach einer Schlammschlacht auf einem illegalen Open-Air-Festival kennengelernt hatte.
„Eure Generation hat doch keinen Arsch mehr in der Hose. Ihr geht von der Schule in den Beruf. Erlebt Ihr was? Habt Ihr noch Eier in der Hose?“
Opa kam so richtig in Fahrt. Ich verzieh es ihm gerne. Klar war, er würde nicht mehr lange leben. Alle Diagnosen deuteten auf ein baldiges Ende hin. Lunge kaputt geraucht, Leber zerfressen, Kreislauf im Arsch nach einem Leben auf dem Rockersofa.
Trotzdem wirkte er glücklich. Geradezu zufrieden. So als hätte der Film im Kino Spaß gemacht und man könnte danach zufrieden nachhause gehen. Dabei war er arm wie eine Kirchenmaus, hatte kein Vermögen gebildet, seine geliebte Frau hatte sich einen wohlhabenden Mann gesucht und ihn sitzen lassen. Seine Geschwister lagen mit ihm in ständigem Streit, hatten es aber in den letzten Jahren aufgegeben, ihn noch irgendwie auf eine ruhige Bahn zu bekommen.
Und mein Vater?
Er wollte nichts von seinem Vater, meinem geliebten Opa, wissen. Zu groß waren die Verletzungen aus der Kinder- und Jugendzeit, die für meinen Vater nicht leicht waren. Ein Rocker als Vater, ein Hippie, ein schräger Typ. Nicht leicht in den spießigen Jahren der Ära Kohl. Fast zum Trotz wurde mein Vater der erfolgreiche Abteilungsleiter einer Bausparkasse. So weit man die absehbar planbaren Karriereschritte als Erfolg bezeichnen konnte.
Jedenfalls war meiner Mutter im gemeinsamen Leben neben mit meinem Vater unglaublich fade. Sie tröste sich mit Southern Comfort und vögelte den Sportlehrer meiner jüngeren Schwester.
„Junge“, gröhlte Opa. Nach drei Schoppen wurde er immer etwas lauter und unberechenbarer: „Es ist besser auszubrennen als zu verblassen ...“
Bei allen seinen Sprüchen wusste ich nie sicher, ob er etwas wirklich beobachtet hatte, ob es seine eigenen Gedanken waren, oder ob er irgendwelche Texte seiner Rock'n Roll-Helden zitierte.
„Bin ich glücklich oder in großer Not? Dieses Mädchen hat mich verzaubert!“
Schmunzelnd sah Opa der vollbusigen Bedienung hinterher, die ihm lächelnd seinen vierten Schoppen Wein gebracht hatte und mir eine weitere Weinschorle im Dubbeglas vor die Nase stellte.
„Bereust du eigentlich irgendwas in deinem Leben?“, fragte ich in einem ruhigen Moment, nachdem Opa damit aufgehört hatte, unschuldige Rentner, gekleidet in typisch graubrauner Scheintotenmontur, ob ihrer Langweiligkeit zu beschimpfen.
„Ja, mein Lieber. Ich bereue, nicht alle Chancen ergriffen zu haben, die sich mir boten. Ich wollte ein guter Vater sein und verpasste dafür ein paar gute Karrierechancen. Jedenfalls vielleicht. So genau weiß man das nie.“
Er starrte traurig in sein Glas:
„Gedankt hat es mir nie jemand. Sie nicht, er nicht, niemand. Aber Reue?“
Er zündete sich mit rasselndem Atem eine Zigarette an und pustete genüsslich den Rauch durch Mund und Nase aus seinem scheintoten Körper:
„Hätte, hätte, Fahrradkette!“
Ich nahm mir eine Zigarette aus seiner zerknitterten Packung und zündete sie mir an:
„Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt ...“, entgegnete ich.
Opa antwortete mit einem hustenden Lachen:
„Das wird schon, mein Kleiner. Das wird ...“
Zehn Tage später stand ich auf dem Friedhof. Ein wilde Gemeinde hatte sich zu seiner Beerdigung eingefunden. Typen mit langen, grauen Haaren. Frauen, die ich noch nie gesehen hatte und die den Eindruck der ewigen Tante machten, die selbst weder Ehemann noch Kinder hatten, aber gerne ihren Nichten und Neffen Flausen in den Kopf setzten. Mein Onkel hielt eine Rede, die haarscharf auf dem dünnen Drahtseil zwischen Gut und Böse balancierte.
Die Szene war mir irgendwie fremd. Tränen flossen erst, als ein Lied gespielt wurde. Mein Opa hatte eine Coverversion des Songs „One Of Us“ von Joan Osborne aufgenommen. Er hatte Recht damit. Vielleicht saß Gott einfach unter uns. Neben uns im Bus oder gegenüber im Speisesaal des Sanatoriums. Vielleicht stand er da hinten und war der Typ mit dem viel zu dicken Bauch unter der alten, abgewetzten Regenjacke. Ich sah eine Träne im Gesicht meines Vaters aufblitzen.
Im angrenzenden Wald bewegten sich ein paar dichte Büsche. Ich glaubte, leises Kichern zu hören und über dem Gebüsch die Spitzen von Federn zu erkennen. Am unteren Rand des dichten Grüns glänzte etwas, schwarz und glatt, fast wie die Spitzen schwerer Stiefel. Pollen flirrten wie goldener Staub im rötlichen Licht der herbstlichen Nachmittagssonne.
In einem Monat soll ich die Lehrstelle in der Bausparkasse antreten. Ich denke, ich werde meinen Vater enttäuschen und die alte Gitarre aus dem Keller holen. Die alte Fender Jaguar stand in der Ecke des Raums, in dem die Habseligkeiten meines Opas eingelagert wurden. Dort hing auch der Schlüssel des alten VW-LT-Wohnmobils, welches unter einer Plane in der alten Scheune schlummerte. Auf dem alten Marshall-Verstärker lag die verstaubte Landkarte der Karpaten, auf der mein Opa verschiedene Punkte markiert hatte.
Ich war neugierig darauf, was ich dort finden würde ...