Allein
Seine Gedanken wanderten immer wieder in den gleichen Bahnen. Ein ums andere Mal erklommen sie die Serpentinen, die zu der steilen Klippe seines persönlichen Abgrundes führten, nur um dort erneut zu scheitern und den beschwerlichen, mit Selbstmitleid gepflasterten Weg ein weiteres Mal zu beschreiten.
Einfach nur daliegen, denken und an die Decke starren. Eine Decke, die ihm inzwischen mehr als vertraut war. Gezeichnet von den Spuren zahlreicher, blutsaugender Insekten, die dort oben ihr Ende gefunden hatten. Gedankenverloren schlug er nach dem Sirren neben seinem Ohr. Er war definitiv nicht allein, aber menschliche Gesellschaft hatte er schon seit bald einem Jahrzehnt nicht mehr erlebt.
Zudem machte ihm die Hitze zu schaffen. Jetzt, morgens um zehn hatte es bereits sechsunddreißig Grad. Früher hätte er sich über das gute Wetter gefreut, doch heute war es eine Qual. München im Februar sollte nicht so warm sein. Sollte, was sollte schon? Es sollte auch keine menschenleere Stadt sein.
Am achtzehnten Mai vor zehn Jahren war es noch eine Stadt voller Leben gewesen. Der Wonnemonat Mai hatte die Einwohner mit einer sanften, föhnigen Brise und bestem Biergartenwetter beschenkt. Bierkasten schleppendes, nacktes und bunt gemischtes Volk hatte sich im Englischen Garten versammelt, um dieses Wetter gebührend zu genießen. Überall lagen, lachten, spielten und spazierten die Menschen durch die grüne Lunge der Stadt und genossen das Leben.
Und am neunzehnten Mai war alles vorbei.
Seit diesem Tag war München eine verlassene Stadt. Und verlassen bedeutet in diesem Fall menschenleer. Einfach so, von einem Tag auf den anderen. Alles war wie am Vortag, die Kirchenturm Glocken schlugen, die Vögel sangen und die Isar floss gemächlich durch die Stadt.
Doch in dieser Stadt befand sich, außer ihm, keine Menschenseele mehr.
Vielleicht besaß auch er keine Seele mehr? Vielleicht war auch seine Seele mit den anderen verschwunden? Nur sein Körper hatte verpasst zu folgen. Doch wohin waren sie entschwunden? Eine Frage die er bis heute nicht beantworten konnte. Aber er konnte auch niemanden mehr fragen, denn es war einfach niemand, wirklich niemand mehr da. Keine Körper, keine Stimmen, keine Autofahrer und, soweit er es in zahlreichen Ausflügen durch ganz Europa erkundet hatte, weltweit.
Alles funktionierte und blieb auch intakt. Es war sogar noch absurder. Alles verhielt sich so, als wären die Menschen gerade noch dagewesen, als wären sie nur kurz seinem Sichtfeld entschwunden. Vor den Cafés qualmten noch die Zigaretten und standen die Getränke auf den Tischen. Der Espresso blieb warm, die Kuchen, die Speisen in den Restaurants, die Lebensmittel verdarben nicht. Jedes Gerät, inklusive des Telefonnetzes, funktionierte einwandfrei und schien auch keinen Strom mehr zu verbrauchen. Doch was nutzt ein Telefonnetz, wenn man niemanden hat, den man anrufen kann?
Das Einzige, was sich bewegte waren Tiere, doch auch von diesen konnte er bis heute nicht sagen, was sie wirklich machten. Sie waren lebendig, doch schienen sie kein Futter zu benötigen. Sie gingen nur dem nach, was sie immer taten, außer fressen, sich Fortpflanzen und altern. Das galt leider auch für die Insekten und das mit dem Altern auch für ihn.
Eigentlich hatte er in der Nacht schlecht geschlafen. Er wusste noch, dass er von einer wilden E-Bike-Fahrt durch das nächtliche München geträumt hatte, denn daran hatte er noch denken müssen, als er dem Grummeln seiner Espressomaschine lauschte, die ihn mit seiner morgendlichen Koffein-Ration versorgt hatte. Beim Trinken war sie ihm dann aufgefallen, diese ungewöhnliche Stille. Kein Autolärm, nichts von all den Geräuschen einer lebendigen Stadt. Nur die Vögel hatten gezwitschert und gesungen. Fast so wie bei der ersten Morgendämmerung an einem Sonntagmorgen, nur eben ohne jedwedes zusätzliches, von Menschen verursachte, Geräusch.
Im Lehel, wo er wohnte, war um diese Uhrzeit normalerweise nicht viel los, aber das vertraute Rauschen und Brummen der Prinzregentenstraße war nicht vorhanden gewesen und hatte auch nicht begonnen, als er sie betreten hatte. Er war auf die Mitte der Straße gelaufen und hatte sich umgeblickt. Er war und blieb das einzig bewegliche Teil in einem absurden Stillleben.
Was nicht ganz gestimmt hatte, denn eine Krähe war auf dem Dach eines auf der Straße stehenden BMW X5 gelandet. Das Tackern ihrer Krallen auf dem Blech war ebenso deutlich gewesen, wie ihre Hinterlassenschaft auf dem hochglänzenden Lack. Vielleicht war es gerade diese Markierung gewesen, die ihn veranlasst hatte zu genau diesem Auto zu gehen und die Tür zu öffnen. Der Schlüssel hatte gesteckt und er war losgefahren. Durch eine Stadt ohne Menschen, mit offenen Fenstern und AC/DC aus dem überlaut eingestelltem Soundsystem.
Die anfängliche Begeisterung, mit einem Luxus SUV durch die verlassene Stadt zu cruisen, hatte sich schnell an der irrealen Stimmung totgelaufen. Selbst als er mit dem Auto quer über den menschenleeren Marienplatz gefahren war. Der Kick blieb aus. Es war nicht halb so erfreulich gewesen wie erwartet. Selbst hupen hatte nichts genutzt und nur ein paar Tauben waren erschreckt davon geflattert als er mit quietschenden Reifen eine Vollbremsung vor dem Rathaus gemacht hatte.
Er hatte im Auto gesessen und sein Hirn hatte langsam ganz langsam begonnen die Situation zu verarbeiten. Dann hatte er versucht jeden einzelnen Eintrag seiner langen Telefonliste anzurufen. Gute drei Stunden später hatte er sie durch. Am Anfang hatte er noch auf Mailboxen gesprochen, die letzten zwei Stunden hatte er sich auch das gespart. Niemand war auf dem Marienplatz erschienen, niemand hatte auf seine Anrufe reagiert. Stille, nichts als Stille hatte ihn umgeben. Die einzige Lärmquelle war er gewesen.
Seine Stimmung hatte sich erst wieder aufgehellt, als er feststellte, dass alle Geschäfte offen hatten. Ein kleiner Abstecher zu Dallmayr, Zechbauer und den Geschäften die Maximilianstrasse hinab, hatte ihn mit eisgekühltem Champagner, frischen Erdbeeren, Zigarren, einem Brioni Anzug, Bally Schuhen und einer Rolex Uhr versorgt. Doch er hatte schnell feststellen müssen, dass weder Luxus noch Zigarren rauchen und Champagner saufen auf die Dauer glücklich machten. Auch nicht, wenn man das bei einer Autofahrt mit einem gestohlenen Geländewagen machte. Eigentlich hatte dieses Zwischenhoch nur wenig Stunden angehalten. Irgendwie war das alles doch lustiger, wenn man es mit jemanden teilen konnte.
Doch diese Gedanken machte er sich erst am Folgemorgen, als er in einer der Suiten des "Vier Jahreszeiten" aufgewacht war und keine Ahnung mehr hatte, wie er dort hingekommen war. Mit brummenden Schädel hatte er beschlossen der Sache auf den Grund zu gehen, eine große Europatour zu unternehmen und all die Plätze aufzusuchen, die er bereits von früher kannte.
Zweiundfünfzig Monate später hatte er auch das getan. Er hatte die großen Städte wie Rom, Paris, Stockholm, Lissabon oder Mailand, genauso wie Zermatt oder Salzburg besucht. Er hatte die Zeit genutzt Kite-Surfen zu lernen, sich das Alpenglühen am Matterhorn und die Polarlichter am nördlichen Wendekreis anzusehen. Er war alle Autos und Loks gefahren, die er schon immer mal fahren wollte und hatte sich nur bei Fluggeräten nicht getraut. Er hatte mit Schutzanzug und Geigerzähler bewaffnet ein Atomkraftwerk abgeschaltet und mit einer Panzerfaust auf einen Panzer geschossen. Er hatte wirklich viel Blödsinn gemacht, doch am Ende hatte es ihn wieder nach München gezogen.
Seitdem war er hier und sehr allein. Was würde er für die Normalität geben? Für einen einzigen Gesprächspartner, oder noch besser für eine Gesprächspartnerin die er zum Essen ausführen könnte? Er wusste es nicht. Und irgendwie wollte er es auch nicht wissen. Das war bei dieser Hitze einfach viel zu anstrengend.
Dr. Sophia Berg zog den Schal um ihre Schultern ein wenig enger. Dieser Mai Abend war doch kühler als erwartet und sie schauderte ein wenig. Vielleicht auch, weil sie an Andreas Jung dachte, ihren Komapatienten von Station drei. Morgen, am achtzehnten, würden es zehn Jahre werden, seit er nach seinem Radunfall ins Koma gefallen war. Ein interessanter Fall, maximale Hirnaktivität trotz Koma. Manchmal würde sie wirklich gerne wissen was in ihm vorging.