Die Gehörnten
Erwin Wurm
Gurkensalat
Kletterpartie
rühmen
Sandkuchen
emeritiert
kinderleicht
Festung
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Eigentlich war dieser Ausflug ja seine Idee gewesen. Er fand es eine gute Gelegenheit, ihre Beziehungsprobleme, die sie seit Monaten voneinander entfernten, endlich einmal anzusprechen und eine gemeinsame Lösung zu finden. Auf neutralem Boden – was ihm wichtig war, wusste er doch um die Jähzornigkeit seiner Frau, die selbst das gute Porzellan ihrer verstorbenen Mutter als Waffe einsetzen würde, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen.
Die Begeisterung, mit der sie seinen Vorschlag begrüßte und sich direkt daranmachte, ein Lunchpaket mit Sandwiches, vom Vortag übrig gebliebenem Gurkensalat und Sandkuchen herzurichten, hatte ihn zunächst nur irritiert. War sie doch sonst keine so leidenschaftliche Spaziergängerin, und bis zum Ziel war immerhin einiges an Aufstieg und Kletterpartie zu bewältigen.
Zuversichtlich, heute loszuwerden, was ihm schon einige Zeit am Herzen lag, legte er sich schon während der Wanderung durch den Wald gedanklich den Einstieg in das Gespräch zurecht. Einfach damit rausplatzen wäre sicher kinderleicht, würde aber ihr aufbrausendes Temperament wahrscheinlich zu sehr provozieren.
Ihre stetig steigende Laune während des Ausflugs und ihr witziges Geplauder ließen ihn an seinem Vorhaben, ihr reinen Wein einzuschenken, zweifeln. Vielleicht renkte es sich ja von alleine wieder ein? Hatte sie nur eine schlechte Phase gehabt? So guter Dinge, lustig und zugänglich hatte er sie schon lange nicht mehr erlebt. Das war auch einer der Gründe, weshalb er mehr als bereit war, eine Affäre mit seiner lebenslustigen Arbeitskollegin anzufangen.
Auf der Aussichtsplattform, an der sie kurz Rast machten, hatte sie sogar den Arm um ihn gelegt und sich an ihn geschmiegt, wie in der Anfangszeit ihrer Ehe. Tatsächlich war er versucht, sie zu küssen, doch das hätte sich nicht richtig angefühlt. Er mochte nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, war lieber für klare Verhältnisse.
Je näher sie ihrem Ziel, einer Felsformation, kamen, desto mehr schien seine Stimmung umzuschlagen, und als sie es erreicht hatten, hatte er seinen Plan bereits begraben. Sie schien so glücklich und entspannt, und er meinte auch, den ein oder anderen verliebten Seitenblick von ihr wahrzunehmen, dass er die gute Stimmung nicht zerstören wollte. Warum ihr wehtun und unnötig Dreck aufwühlen? Und überhaupt: Die Ehe sollte eine Festung sein, eine Burg, die man nicht einfach kampflos aufgibt. Seine Arbeitskollegin… Irgendwie war doch beiden klar, dass das nichts von Dauer sein konnte. Gleich am Montag im Büro würde er mit ihr reden und die Liaison beenden. Oder besser noch: eine SMS schicken. Das ersparte erst mal unliebsame Diskussionen.
„Es war eine tolle Idee von Dir, hierher zu kommen. Ich war schon ewig nicht mehr hier. Die Aussicht ist atemberaubend und die Stille Balsam für die Seele!“ Sie stand am ungeschützten Rand des Felsens, dessen schroffe Wand 500 Meter tief abfiel und einen Blick über das gesamte Tal ermöglichte – ein Traum für alle Freunde des free climbing. Direkt unterhalb der Felswand trotzten vereinzelte knorrige Büsche dem steinigen Boden etwas Leben ab, erst in tieferen Regionen ging der Bewuchs in Wald über.
„Hast Du den Fotoapparat mitgenommen? Komm, lass uns ein paar Bilder machen!“ Sie nahm die Schiebermütze ab, schüttelte ihre Frisur zurecht und stellte sich in Pose. Was für eine Kulisse! Er hatte nur sein Handy mitgenommen und probierte ein paar Einstellungen, um möglichst viel von der Landschaft mit aufs Bild zu bekommen.
„Ein bisschen mehr nach links… Ja, genau, bleib so!“, dirigierte er sie. Während er ein paar Fotos machte, fing sie an zu plaudern, doch ihr Tonfall hatte sich verändert.
„Erinnerst Du Dich an Erwin, der letztes Jahr ein paar Tage bei uns zu Besuch war?“, wollte sie wissen.
„Meinst Du Erwin Wurm, dieser Professor außer Dienst?“
„Er ist nicht außer Dienst, sondern emeritiert, also nur in Teil-Ruhestand.“ Wieso klang ihre Stimme jetzt so trotzig?
„Ok, emeritiert also. Was ist mit ihm?“
„Erwin und ich… Wir treffen uns.“
„Wie meinst Du das?“
„Ach, komm schon. Du weißt genau, was ich meine.“
Langsam ließ er die Hand mit dem Handy sinken. „Du willst mir ernsthaft erzählen, dass Du… dass ihr…“
„Ficken, Vögeln, Bumsen – nenn es wie Du willst, aber es ist viel mehr als das. Hey, Du weißt doch, wie der Hase läuft. Zwischen Dir und mir läuft doch nichts mehr, da ist einfach die Luft raus. Und mit ihm blühe ich richtig auf, ich spüre das Leben wieder!“
Musste er sich das antun, wie sie vor ihm ihren Stecher verherrlichte und rühmte? Was war er doch für ein Trottel, zu glauben, dass ihre kecken Blicke und Zuneigungen vorhin ihm galten. Wahrscheinlich hatte sie an diesen Erwin gedacht! Und sie, die ihn betrog und hier so gefühllos abkanzelte, hatte er schonen und die Ehe mit ihr retten wollen? Wie konnte er all die Jahre nicht merken, wie erbarmungslos sie war? Unbändige Wut erfüllte jede Faser seines Körpers, während sie weiter ihre Lobeshymnen auf ihren Professor zum Besten gab.
Was stellte sie sich eigentlich vor, wie er auf so was reagieren soll? Ihr auf die Schulter klopfen und alles Gute wünschen?
Immer noch fassungslos über ihre Abgebrühtheit und seine eigene Blauäugigkeit, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung links hinter ihr wahr. Er rührte sich nicht, ließ sie weiter plappern von tollen Zeiten, die sie vor sich hatte. Es war nur noch einen halben Meter von ihr entfernt, doch sie konnte es nicht sehen, weil es sich im toten Winkel befand. Gleich war es bei ihr… Jetzt! Mit einem unschönen Geräusch krachte das Gehörn eines Steinbocks gegen ihre Hüfte. Mit einem Schrei knickte sie ein und stolperte an die Abschlusskante des Felsens.
„Oh mein Gott! Hilfe! Hilf mir doch! Los, verjag das Vieh!“ Ganz sicher würde er nichts dergleichen tun. Er verhielt sich weiter ganz ruhig und wartete ab, wie die Situation sich entwickeln würde.
Noch bevor sie sich wieder aufrichten konnte, setzte der Steinbock mit einem kräftigen Stoß nach, was sie endgültig über den Rand katapultierte.
Stille trat ein.
Wie hatte sie vorhin gesagt? Die Stille ist Balsam für die Seele. Dem konnte er nur beipflichten.
Langsam nahm er seinen Rucksack, zog sich zurück, bis er den Wanderweg erreichte und machte sich auf den Heimweg. Die Sache mit der Arbeitskollegin würde er noch mal überdenken…