Abrechnung mit Gott
Der Pilger
„Ach Gott, du hast mich ganz schön an der Nase herum geführt, weißt du das?“
Josef schimpfte vor sich hin. Seine zornig gepressten Lippen verursachten einen ertragreichen Speichelregen, während ihm der Schweiß in Strömen unter der Krempe seines Strohhuts über die Wangen rann.
„Du blödes Arschloch hockst jetzt bequem in deiner Kuschelwolke mit Aircondition und lauschst den Harfenklängen deiner Arschengel, während ich mir hier die Füße platt laufe. Und was bekomme ich dafür? Krankheit, Misserfolg und Einsamkeit!“
Es dürfte nicht mehr lange dauern bis zum Ziel aller Pilger: Santiago de Compostela. Der Aussichtsturm Gottes. Nur mit der Erleuchtung war das so eine Sache. Mag ja sein, dass sich hier Menschen plötzlich mit Gott anfreundeten, denen alles Spirituelle vorher so fremd war wie dem Veganer eine Fleischwurst. Josef aber drehte sich gerade enttäuscht von seinem Schöpfer ab.
„Was habe ich immer deine Schöpfung geehrt und mit Wohlwollen behandelt? Wie oft habe ich Kröten über die Straße getragen, Regenwürmer vom trockenen Asphalt gerettet oder anderer Leute Müll aus den Wäldern getragen. Das Karma müsste mir doch mal was zurück geben. Aber was gab es mir?“
Wütend kickte er eine Ringelnatter mit seinem Wanderstab vom Weg, die dummerweise in der Annahme lebte, dass auch dieser Pilger die Freude an Gottes Natur entdeckt hätte. Zu dumm, Josef hatte die Freude gerade verloren und entwickelte grenzenlose Wut – mit einer gewissen satanischen Freude, die ihm neue Lebensenergie schenkte. Sein Gang glich nicht mehr dem beseelten Wandern eines Pilgers, sondern eher dem kraftstrotzenden Ausschreiten eines politischen Aktivisten. Wut tut gut nach langer Qual.
Er dachte darüber nach, warum er diesen Weg ging. Er dachte an seine Familie. Die Augen wurden ihm feucht beim Gedanken an seine Tochter. Sie war sein Sonnenschein, seine Lebensfreude, seine Leichtigkeit. Bis zu diesem Tag, an dem sie plötzlich den Verstand verlor. Von heute auf morgen starrte sie katatonisch vor sich hin und rieb sich die Hände minütlich mit Handcreme ein. Die Ärzte fanden keine somatischen Ursachen, also landete sie in der Psychiatrie, nachdem auch Beschwörungen durch Priester, Geistheiler und Globulihändler keine Besserung brachten. Die heißen Sieben halfen ebenso wenig wie auf ein verschwindendes Minimum reduziertes Opium oder homöopathische Spuren von Johanniskraut.
Erst im Alter von sechzehn Jahren, nach zwei Jahren Aufenthalt in der Klinik, wurde sie entlassen und konnte sich mühsam rehabilitieren. Für die Betschwestern und Tratschweiber seiner Kirchengemeinde war die Ursache der Psychose stets glasklar, denn heimlich hielten sie Josef, mit seinem Bäuchlein und den wenigen, fettigen Haaren, für ein sexuelles Ferkel. Er spürte ihre Feindseligkeit, die vielleicht nur darauf beruhte, dass seine Frau Maria mit ihren stets glänzenden Augen und ihrem glockenklaren Lachen wirkte wie eine durch und durch befriedigte Frau.
Dabei wurde ihm seine Eheglück nicht geschenkt wie einem Oligarchen das gefüllte Bankkonto. Lange hatte er um die Gunst seiner Maria kämpfen müssen. Deren Eltern waren überzeugte Sozialisten, die sich einen glitschigen Katholiken als Schwiegersohn ebenso wenig wünschten wie Querdenker einen ausgefüllten Impfpass. Doch Maria wurde glücklich mit ihm, auch wenn ihre Liebe nur auf den konträren Werten beruhte, die er im krassen Gegensatz zu ihren Eltern lebte. Er, der eifrige Katholik im Gegensatz zu ihren überzeugt linken Eltern.
Josef seufzte. Wie gerne würde er wieder mit ihr baden. Nackt, wie Gott ihren wundersamen Leib erschuf und ihm zur Freude des Fortplanzungsgedanken schenkte.
„Ich scheiße auf dich, mein Gott. Ich habe keine Bock mehr auf deine 'Prüfungen', die du mit auferlegst, immer wenn es gerade mal gut laufen könnte. Wozu soll das gut sein? Willst du mich in die Knie zwingen? Da hast du dich aber gewaltig geschnitten!“
Wütend ballte er die Faust und streckte sie wild gestikulierend zum Himmel.
Wie glücklich war er im Urlaub mit seiner kleinen Familie, als sie in Mecklenburg ein Stück „Sternberger Kuchen“ auf einer Tour für Hobby-Geologen finden konnten. Heute wanderte er durch die staubigen Berge Spaniens, was ihm aber nicht die erwünschte Erleuchtung oder wenigstens den Seelenfrieden brachte, sondern nur seinen unbändigen Gotteszorn anfeuerte. Auf Gottes furchtbares Konto verbuchte er den Zustand seiner Frau, die seit einem Jahr kein Wort mehr redete.
Ihre gemeinsame Tochter hatte das zwanzigste Lebensjahr erreicht. Ihre Psychose hatte sie hinter sich gelassen, die Schule nachgeholt und eine Ausbildung zur Optikerin erfolgreich abgeschlossen. Dann kam dieser besoffene Idiot und fuhr sie an einem Sonntagmorgen vor genau einem Jahr während des Gangs zur Kirche über den Haufen. Der Fahrer kam mit einer Bewährungsstrafe davon, während das emotionale Gefängnis seiner Frau zu einer lebenslänglich stummen Angelegenheit wurde.
Josef war nie ein Luftikus. So wie manche hier auf dem Jakobsweg, die mit der Nase in der Luft über die steinigen Wege schwebten, um Gottes Werk zu huldigen. Sicher hatten diese Feingeister nie wirklich schwer arbeiten müssen, um eine Familie zu ernähren, grollte Josef. Er hingegen hatte sich jahrzehntelang mit seinem Fliesenlegerbetrieb abgeplagt, um von seinen Gewinnen auch noch stattliche Summen an die Kirche spenden zu können. Seine Kunden waren handverlesen und zahlten stets pünktlich. Bereitwillig nahm er auf Empfehlung des Dorfpfarrers einen großen Auftrag an, um die sanitären Einrichtungen einer gemeinnützigen Einrichtung auszustatten. Doch Gottes Dank blieb aus und die Zahlungen der Auftraggeber ebenso. Die Hilfe seiner Bank konnte er nicht mehr aktivieren und mit keinem weiteren Kredit seine kleine Firma aufpusten. Er fühlte sich gedemütigt, als er seinen Laden schließen und wieder den Gang zum Schichtdienst in der ansässigen Keramikfabrik antreten musste. Welcher Vollidiot von Gott gönnte ihm nicht mal das kleine Glück des wirtschaftlichen Erfolgs? Er wollte nur seine Familie ernähren und kein stinkreicher, ausbeutender Unternehmer sein. Bescheidenheit wurde nicht belohnt. Das Kamel, welches durchs Nadelöhr passen sollte, hinkte gewaltig.
„Deine Pfaffen erzählen Unfug, sobald sie ihr Schandmaul aufmachen. Dabei fehlt ihnen der Pep, der echte Menschen lebendig macht. Deine Kirche stinkt nach eingeschlafenen Käsefüßen!“
Josef lachte lauthals in die Stille der Hügel Galiciens. Dabei wirkte er quietschfidel und gut gelaunt wie ein Weintrinker am Rhein.
„Du wirst schon sehen, was du davon hast, du Blödmann-Gott. Ich bete nicht mehr zu dir aus Angst, deine Rache könnte mich vernichten. Du vernichtest mich auch so mit deinen 'Prüfungen'. Doch ich kann auch ohne dich weiterleben. Mich kannst du nicht mehr verarschen, dass Spiel ist aus!“
Die Begegnung
Letzte Nacht hatte er sie getroffen. Dan und Dave. Josef erwachte im Bettenlager einer Pilgerunterkunft aus wirren Albträumen. Dan, ein kleiner dicker Chinese und Dave, ein afrikanischer Hüne mit witzigem Akzent, saßen zusammen neben ihm auf einem Bett, als Alfons verschwitzt und aufgeregt erwachte.
„Schlimme Sachen, die du im Schlaf elzählst, Kamelad“, flüsterte Dan.
„Hä?“, antwortete Josef stöhnend.
„Lass' uns ein paar Flaschen Wein verkasematuckeln und von die lustigen Zigaretten rauchen“, kicherte Dave.
Lange hockten sie in einer glasklaren, lauen Nacht unter dem funkelten Sternenhimmel und erzählten sich ihre Geschichten. Die beiden kamen aus der kleinen Gemeinde Urbar am Rhein, nahe bei Koblenz. Sie gehörten einer satanischen Sekte an und hatten ebenso wenig Glück im Leben wie Josef. Dan verlor seine Frau, weil sie mit einem Urlaubsflieger abstürzte, der unterwegs war zum Wallfahrtsort Fátima. Daves christliche Familie wurde in Somalia von einem Haufen islamistischer Krieger niedergemetzelt. Er überlebte nur, weil ihn die Anführer des Angriffs entführten und zum Kindersoldaten ausbildeten. Irgendwann konnte er fliehen und fand sich auf einem Flüchtlingsboot über das Mittelmeer wieder. Doch in Europa wollte ihn auch niemand haben.
Dan und Dave waren auf dem Jakobsweg unterwegs, um entweder Gott wiederzufinden oder endlich ein Exempel zu statuieren, das dazu führen sollte, Satanisten in dieser Welt ab sofort ernst zu nehmen. Christlicher Kommerz und blödsinnig beseelte Pilger trieben sie dazu, sich für Letzteres zu entscheiden.
Josef hatte selten in seinem Leben eine so lebendige Nacht erlebt. Sie lachten, sie weinten, sie heulten wie die Wölfe. Sie tanzten zu afrikanischer Musik aus dem mitgebrachten Bluetooth-Lautsprecher und zitierten schlaue chinesische Sprichwörter des Konfuzius. Sie beschimpften grölend die christlichen Spießer, die sich durch die offenen Fenster der Unterkunft über die Ruhestörung beschwerten. Sollten sie doch zu ihrem schwerhörigen Gott um Taubheit beten, er würde sie sicher erhören nach einem komplett durchgemurmelten Rosenkranz und zehn Ave Maria.
Irgendwann sprachen sie von der Bombe. Schließlich riet Josef den beiden Freunden davon ab, gemeinsam wie geplant den Sprengsatz in der Kathedrale von Santiago de Compostela zu platzieren. Ein Chinese und ein Afrikaner würden im erzkatholischen Santiago sicherlich auffallen wie Adam und Eva im paradiesischen Garten und die Aufmerksamkeit der spanischen Sicherheitsbeamten auf sich ziehen. Aber Josef, als deutscher Christ mit biblischem Namen, würde so harmlos wirken wie ein Kinderdreirad.
Am Morgen danach näherten sich Josef diabolisch grinsend mit großen Schritten seinem Ziel. Sein Leben war vorbei und die letzte Nacht hatte seinem baldigen Sterben einen fröhlichen Sinn gegeben …
Tageszeitung „El País“ am 14.06.2026
„Am Freitag den 13.06.2026 ereignete sich ein Selbstmordanschlag in der Kathedrale von Santiago de Compostela, dem Pilgerzentrum wandernder Christen aus aller Welt. Nach bisherigen Ermittlungen und der Auswertung verwertbarer Spuren des Selbstmordattentäters gehen die spanischen Ermittler nicht von einer extremistischen Tat aus. Nichts spricht für einen islamistischen Anschlag. Der Täter stammt nach bisheriger Kenntnis aus Deutschland und war bisher ein unbescholtener katholischer Familienvater. Seine Tochter kam vor einem Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben.“
___________________________________________________________________________
Und weil es so lange gedauert hatte und zu wenig Zeit zum Schreiben bleibt, sind es diesmal die letzten 24 Wörter:
Strohhut
glasklar
Ringelnatter
baden
Aussichtsturm
glitschig
ausschreiten
Sternberger Kuchen
Oligarch
Ferkel
Handcreme
Konto
aktivieren
aufpusten
handverlesen
sieben (7)
Luftikus
Unfug
Pep
verkasematuckeln
huldigen
bereitwillig
urbar
quietschfidel