Lilith
Ihr glaubt, ihr wisst etwas über mich? Dann seid ihr einer der unzähligen Fehlinformationen aufgesessen, die über mich verbreitet wurden. Warum ich das nicht klargestellt habe? Das Spiel war zu unterhaltsam, als dass ich euer Weltbild ohne Not hätte auf den Kopf stellen wollen. Mittlerweile jedoch nimmt das Ganze eine Dimension an, die ich nicht mehr ohne Intervention hinnehmen kann. Nun also die Wahrheit oder zumindest der Teil davon, den ihr zum besseren Verständnis benötigt.Ich wurde nicht – wie kolportiert wird - von Gott zusammen mit Adam aus Lehm geschaffen. Ich war schon immer da. Ihr wisst, was das bedeutet? Genau! Die Entität, die ihr Gott nennt, ist eine meiner Schöpfungen. Ein frühes Experiment, nicht besonders gelungen, wie ich zugebe. So eine Schöpfung muss sich entwickeln, bevor man ihr wirkliches Potenzial beurteilen kann. Also habe ich Gott eine Spielwiese eingerichtet, auf der er ohne Einschränkungen agieren konnte, und habe aus der Entfernung beobachtet, was passiert.
Der Anfang war vielversprechend. Beschwingt von seiner Macht schuf er ein ganzes Universum mit den unterschiedlichsten Arten von Kugeln, mit denen er wie mit Murmeln spielte. Daran konnte er sich über Äonen ergötzen. Als ihm das langweilig wurde, ging er dazu über, das Spiel interaktiv zu gestalten. Weil sie so schön blau war, wählte er die Erde, um darauf Leben zu schaffen. Nach einer Weile des Experimentierens mit verschiedenen Formen, kam er auf die Idee, ein Wesen nach seinem Ebenbild zu erschaffen, mit dem er sich austauschen konnte. Dieses Geschöpf nannte er Mensch. Das mit dem Ebenbild dürft ihr nicht wörtlich verstehen. Es gibt keine körperliche Entsprechung von Gott. Aber er gab dem Menschen das mit, was ihm an Vorstellungen und Charaktereigenschaften immanent war. Natürlich waren die ersten Versionen recht grobschlächtig, aber über die Jahrmillionen wurde dieses Wesen immer mehr verfeinert.
Drei der schlechtesten Eigenschaften Gottes waren Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Kontrollsucht. Ich fürchte, daran bin ich nicht ganz unschuldig, schließlich hat er diese Wesenszüge von einer Version von mir, die noch nicht alle Erfahrungen gemacht hatte. Und natürlich stattete Gott seinen Adam mit diesen Eigenschaften aus, die von dessen Nachfahren bis heute gepflegt werden. Damit die Sache rund wurde, schuf er aus einer von Adams Rippen - genaugenommen war es ein Schlüsselbein - als Ergänzung diese tumbe Eva, die es immer noch nicht geschafft hat, sich als eigenständige Person wahrzunehmen. Um sich ganz zu fühlen, braucht sie einen Adam.
Das Perfideste, was sich Gott in dem Zusammenhang geleistet hat, ist die Sache mit der Fortpflanzung. Es gibt unzählige Möglichkeiten, sich zu reproduzieren, aber dem Menschen hat er ein System oktroyiert, das diesen für immer abhängig macht. Adam braucht möglichst viele Evas, um seine Gene weiterzugeben, und Eva braucht Adam, um ihre hilflose Brut großzuziehen. Das allein birgt schon großes Konfliktpotenzial, aber Gott hat dem noch die Krone aufgesetzt, indem er den Menschen so ausgestattet hat, dass beim Sex Glückshormone ausgeschüttet werden. Das bewirkt, dass sich Sexualität nicht auf die Fortpflanzung beschränkt, sondern davon völlig unabhängig als Droge konsumiert wird, was eine Explosion der Population nach sich zieht.
Gott hatte den Plan, sich durch den Menschen selbst zu erkennen. Der Stolperstein dabei war, dass Gott sich über die Zeit weiterentwickelt hatte, der Mensch ihm aber immer wieder seine ursprünglichen Eigenschaften spiegelte. Wie könnte es auch anders sein. Die Anlagen bei seiner Erschaffung wurden über alle Zeiten bedingungslos weitergegeben. Da half auch keine Evolution. Das ist so, als wenn du nach einer Schönheitsoperation in den Spiegel schaust, und immer nur dein altes, hässliches Ich siehst. Da wundert es nicht, dass Gott sich schon vor langer Zeit von den Menschen abwandte, obwohl er das Dilemma selbst erschaffen hatte.
Der Mensch wurde sich selbst überlassen, und so kam es, wie es kommen musste. Alles Bemühen um Zivilisation war nur Tünche, unter der die alten Anlagen schlummerten, die dem Menschen keine Wahl ließen. Die Katze lässt das Mausen nicht, und der Mensch nicht das Verhalten, das ihm selbst die Lebensgrundlage entzieht. Das Selbstmordprogramm ist in vollem Gange.
Alles, was der Mensch als gottgegebene Plagen ansieht, hat er selbst erschaffen. Kriege, Hungersnöte, Dürren, Fluten, Feuersbrünste und Seuchen. Viele habe bereits erkannt, dass der Punkt ohne Wiederkehr bald erreicht ist, aber das Verhalten ändert sich nicht schnell genug, um den Niedergang des Planeten und somit auch des Menschen noch aufzuhalten. Allein durch Reden ist nie etwas passiert, ganz nach dem Buddha-Zitat: "Es nützt nichts, nur ein guter Mensch zu sein, wenn man nichts tut!". Der Mensch von heute fühlt sich auf der Erde nicht mehr zuhause und geht dazu über, hauptsächlich in einer virtuellen Welt zu leben, die ihm so etwas wie Kontrolle suggeriert. Auf der Suche nach dem Überleben geht der Trend sogar dahin, mit der Virtualität zu verschmelzen, was technisch schon in Vorbereitung ist.
Im Laufe meiner Beobachtung ist mir die Erde ans Herz gewachsen, und ich kann ihrer vollständigen Zerstörung nicht tatenlos zusehen. Natürlich berührt mich auch das Schicksal der Menschen, die durch Gottes Versagen und damit auch durch meine Schuld so völlig chancenlos sind. Deshalb habe ich mich zu einer Korrektur entschieden, die dem Menschen brachial erscheinen mag, im Gefüge der Zeit aber nicht mehr ist als ein lauer Sommerregen.
In wenigen Jahren – immer zur Zeit des Vollmonds – werden Kinder geboren werden, die völlig anders sind. Den Eltern werden sie schwerbehindert erscheinen, da sie nicht mit dem alten Menschen kommunizieren. Sie werden eine Ernährung mit Fleisch verweigern, ebenso wie alles, was dem Planeten weiteren Schaden zufügt. Aufgrund ihrer vermeintlichen Behinderung werden viele von ihnen in Pflegeheimen landen. Und dort – wenn mehrere von ihnen aufeinandertreffen – wird sich ihr Potenzial entfalten. Dann sind sie keine hilflosen Individuen mehr, sondern Wesen, die ein gemeinsames Bewusstsein haben, das auch das Bewusstsein des Planeten umschließt. Sie werden über Kräfte verfügen, die ihr nicht einmal erahnen könnt. Sobald sie zusammenkommen, brauchen sie keine Hilfe und keinen Schutz von außen mehr. In ihnen sind keinerlei Aggressionen angelegt, aber sie sind in der Lage, sich gegen menschliche Verfolgung, die früher oder später einsetzen wird, erfolgreich zu verteidigen.
Die bisherigen Menschen werden zunehmend unfruchtbar werden, so dass die Weitergabe ihrer schlechten Gene immer mehr abnehmen wird. Für einige Jahrhunderte werden beide Gattungen koexistieren, bis der alte Mensch endgültig ausgestorben sein wird. Ich gebe zu, dass dieser in der kommenden Zeit nichts zu Lachen haben wird, jedoch liegt es an jedem Einzelnen, seine Endzeit bestmöglich zu gestalten. Die neuen Menschen werden sich nicht wahllos fortpflanzen, sondern nur dann, wenn es für den Planeten verträglich ist. So wird sich die Natur die Ruinen der einstigen Zivilisation zurückerobern, und die Erde wird sich von dem Raubbau erholen. Und wer weiß … vielleicht gibt es nach weiteren Millionen Jahren ein neues Experiment mit Lebewesen, die ein individuelles, verbessertes Bewusstsein haben.
Die 8 Wörter
Vollmond
Buddha
Ruine
Katze
glauben
lachen
verstehen
reden
Suche
Stolperstein
Schlüsselbein
Sommerregen
blau
brachial
berühren
bedingungslos