Das Schicksal
Natürlich sollte ich schreiben – mein Schicksal.
Manchmal stelle ich es mir als eine lebende Person vor.
Oder besser eine Entität – als etwas Seiendes.
Und ich glaube wirklich, dass da etwas über mich wacht und mein Tun beobachtet.
Ich empfinde das keineswegs als etwas Befremdliches oder gar als eine
Anomalie.
In meiner Jugend habe ich mir über derartige Dinge keine Gedanken gemacht.
Das Leben, das ich führen konnte, empfand ich als ebenso selbstverständlich,
wie die Umstände in die ich hineingeboren wurde.
Meine Familie war bekannt in der Stadt und wir waren durchaus wohlhabend.
Ich war recht
vorzeigbar, hatte viele Freunde und wusste die Herzen der Mädchen zu
gewinnen. Sommerferien, die erste Mofa, Tage am Strand und fallende
Bikinioberteile.
So dachte ich, ich hielte den
Freifahrtschein ins Glück in Händen.
Der frühe Tod meines Vaters brachte mein Weltbild dann aber recht plötzlich ins Wanken und ich musste mich
zwingen, dem Ernst des Lebens ins Gesicht zu sehen. Und das tat ich auch.
Wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, dass das Leben keine ewig andauernde Party ist und nach Sonnenschein, auch der Regen folgt.
Jahrzehnte später, ich war eigentlich auf dem Weg nach Neuseeland, um dahin auszuwandern, hatte aber noch drei Monate Zeit, bis ich meinen neuen Job antreten sollte.
Diese drei Monate wollte ich mit einer Rundreise durch Indien verbringen.
Und so betrat ich, am 6. Oktober 1998, nach einer fünfzehnstündigen Fahrt mit einem klapprigen Bus, den Marktplatz von McLeod Ganj.
Dieses Fleckchen Erde, am Fuße des Himalaya, war einer der Sommersitze der britischen Kolonialherren gewesen. Bis zu einem verheerenden Erdbeben am 4, April 1905, bei dem viele tausend Menschen ihr Leben verloren und das den Ort fast vollständig zerstörte. Die Briten zogen weiter ins Tal hinunter und überließen die verbliebenen Gebäude dem Verfall.
Im March 1959, kam, auf Einladung der indischen Regierung, Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, nach seiner spektakulären Flucht aus dem, von der chinesischen Volksarmee besetzten, Tibet, nach McLeod Ganj und ließ sich zusammen mit seiner Exilregierung hier nieder.
Drei Tage nach meiner Ankunft hatte ich mich an die über 2000 Höhenmeter gewöhnt und unternahm eine erste Tour in die umliegenden Berge und Täler.
Als ich am Abend zurückkehrte, herrschte im Ort große Betriebsamkeit und eine auffällig ausgelassene Stimmung. Auf Nachfrage, erfuhr ich, dass der Dalai Lama am späteren Abend von einer seiner vielen Reisen zurückerwartet werde und bei diesen Gelegenheiten oftmals vor den Tempel tritt, um die Gläubigen zu segnen. Ausländer und Nicht-Buddhisten wäre auch willkommen.
Also stand ich etwas später, zusammen mit etwas hundertfünfzig anderen aufgeregten Menschen, vor dem Tempeleingang Spalier. Als der heilige Mann durch den Torbogen schritt, erhob sich ein vielstimmiges Gemurmel aus tibetischen Mantren und Lobpreisungen.
Langsam schritt er die beiden Reihen ab. Wandte sich abwechselnd nach rechts und links, verteilte Segnungen, in dem er seine rechte Hand zur Stirn führte und nahm Khatas entgegen, den traditionellen weißen Begrüßungsschal der Tibeter. Der Khata symbolisiert Reinheit, Glück und Mitgefühl.
Besondere Aufmerksamkeit widmete er Säuglingen und Kindern, aber auch Neuankömmlingen aus seiner alten Heimat – Tibet.
Ich befand mich am Ende der wartenden und mir gegenüber stand ebenfalls eine kleine Gruppe von Geflüchteten, die an ihren sonnenverbrannten und ausgezehrten Gesichtern deutlich zu erkennen waren.
Doch die Freude und Ergriffenheit, die sich nun in diesen Gesichtern zeigte, überstrahlte all die Entbehrungen und Trauer ihrer Flucht aus der geliebten Heimat.
Nachdem er leise und lange mit ihnen gesprochen hatte, wandte er sich um, um den Weg zurück in den Tempel zugehen.
Da passierte es.
In Gedanken sagte ich zu mir: 'Ach schade, jetzt guckt er nicht mehr her.'
Es war, als hätte ihn mein Gedanke am Ärmel
gezupft.
Er hielt inne, wandte den Kopf zu mir und sah mir mit einem
Augenaufschlag direkt ins Gesicht. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir uns in die Augen. Dann lächelte er mich an, hob seine Hand um mir seinen Segen zu geben, nickte kurz und ging weiter.
Ich war wie vom Blitz getroffen. Und auch wenn ich mich heute noch genau an meine Gefühle erinnere, kann ich sie noch immer nicht in Worte fassen. Noch Tage später ging ich wie auf Wolken.
Statt, wie geplant eine Woche, bleib ich neun. Dann zwang mich der einsetzende Winter zum Aufbruch und ich nahm einen der letzten Busse, der mich zurück nach Neu-Delhi brachte.
Neuseeland besuchte ich erst im Jahr 2000 wieder. Inzwischen hatte ich eineinhalb Jahre in Indien verbracht. Über ein Jahr davon in unmittelbarer Nähe zum Tempel des Dalai Lama.
Ich, der ich nie gläubig war, der sogar den Namen des „Ungläubigen Thomas“ trug, besuchte buddhistische Vorlesungen, begann zu meditieren und nahm an buddhistischen Zeremonien teil – ich begab mich sogar in ein freiwilliges Zölibat. Es fehlte nicht viel, und ich wäre dort ins Kloster gegangen.
Nun, ich bin es nicht.
Geblieben ist bis heute, ein starker Glaube daran, dass Dinge aus gutem Grund geschehen.
Und rückblickend betrachtet, hat alles, was mir in meinem bisherigen Leben widerfuhr, mich dahin geführt, wo ich heute bin.
Und das ist gut so.