Farbenland
Wir wohnten damals im Ockerbruch, ein kleiner Randbezirk des Dorfes Gelbingen und etwa drei Kilometer von der nächsten Kleinstadt Königsblau.Unser kleines Haus war bunt und schillerte in vielen Farben. Meistens trug ich eine magentafarbene Jacke zu meiner mausgrauen Hose und das war schon ein Problem. Die meisten Kinder trugen entweder Gelb, Blau oder Rot. Sie wohnten in Drei- bis Vierzimmerwohnungen, stattlichen Bauernhöfen oder in ordentlichen Reihenhäusern. Alle diese Häuser waren auch in Gelb, Blau oder Rot gestrichen.
Da meine Mutter aus Orangenland stammt, sprachen wir eine andere Sprache. Die in unserem Dorf war weiß-blauisch und ich hatte Mühe da mitzukommen.
Meine Mutter arbeitete hart und verdiente unser Brot. Vater, der als Künstler leider nie wirklich liquide war, sorgte immer für uns und war immer da.
Auf dem Schulweg lief ich immer drei Meter hinter den Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich werde nie diesen Blick auf die nagelneuen Schulranzen von Steffi, Katrin und Andrea vergessen. Alle in Gelb, das war die Farbe schlechthin. Meiner war leider ein bisschen hellblau, aber dafür mit viel marsgelben Sticker versehen. Trotzdem – es war nun mal eben kein richtiger Gelber.
Unser ganzes Farbenland war lange in Ost und West getrennt durch eine Mauer.
Eines Tages – ihr erinnert Euch – fiel diese Mauer.
Das war auch sehr spürbar in Südfarbland. Mit einem Schlag hatten wir sehr viele neue Dorfbewohner aus Ostfarbland und sie lebten alle in einem ehemaligen großen Gasthof unweit von Ockerbruch, dessen verblichener Außen Putz nur noch ein Sud aus Lavendel-Lila und Cyan-Blau bestand. Die Außenwände bröckelten und erinnerten an die alten blauen Zeiten.
Schnell fand ich unter den neuen Dorfbewohnern Freundinnen. Mit Kathleen verstand ich mich besonders gut. Sie erzählte mir viel aus ihrem alten Wohnort hinter der Grenze. Sie hatte dort nur eine blaue Uniform. Ansonsten trug sie, genauso wie ich, viele farbenfrohe Kleidung. Auch ihre Mutter hat viel Kleidung selbst genäht und sei froh, dass sie mich kennengelernt hat. Kathleen hatte schon ein bisschen Angst vor ihrer neuen Heimat, wo sich alle gelbe, rote oder blaue Kleidung leisten konnten.
Auch sie zog sich meistens bunte Hosen zu ihren hellrosa T-Shirts. Wir tauschten oft Klamotten aus und abends schnappten wir unsere Leinwand mit all den Malsachen und setzten uns an den Grünsee. Unserer Fantasie war keine Grenzen gesetzt. Wir nutzten nicht nur Pinsel und Farbe, sondern auch braune Blätter, froschgrüne Gräser oder alles was bunt und formbar war und auf unser eigenes Bild passte. Das schönste Bild nannten wir dann „Raub der Primärfarben“ und wir pinselten alles darauf, was wir an Farben mischen konnten. Mein Vater besprühte die Oberfläche sorgfältig mit einem Lack, sodass die Erinnerungen ewig leuchten. Noch heute hängt es bei mir im Wohnzimmer über mein aschgraues Sofa.
Irgendwann zog die Familie von Kathleen um. Sie hatten eine gelbe Wohnung am Stadtrand Königsblau bezogen. Bald hatte sie immer weniger Zeit zum Malen am Abend. Schließlich hatte sie keine Zeit mehr. Gelegentlich quatschten wir noch auf dem Schulhof. Ich traf sie aber nur noch in roter Kleidung an. Jeans, T-Shirt, Schuhe – alles hundertprozentig rot.
Eines Tages stieg sie aus dem Bus. Ihre Haare waren nun dauergewellt und sie sah hübsch aus. Als sie mich sah, drehte sie ihren Walkman auf Laut und wechselte die Straßenseite.
Ich war wirklich traurig, aber eine schöne farbenfrohe Erinnerung an damals habe ich mir bewahrt. Zumindest gab ich ihr für den Anfang hier in Westfarbenland ein Stück Heimat und vielleicht erinnert sie sich heute an mich.