Der Pirat - Die Flucht
11
Welt
zivilisiert
Leidenschaft
Anteil
Miteinander
Gedächtnis
schützen
fühlen
Kaum hatte Kapitän Barrot ihr Gemach verlassen, holte Claudette, unsere schöne Ringdiebin, mit spitzen Fingern den Ring aus ihrem rosigen Schatzkästlein hervor. Ihn während der bevor stehenden Flucht weiterhin dort zu verwahren, hielt sie für keine gute Idee. Eventuell, müsste sie das Kleinod schnell zur Hand haben.
Flink schlüpfte sie in die Männerkleidung, die ihr bei nächtlichen Ausflügen schon so oft gute Dienste geleistet hatten. Die lederne Hose und das weite Leinenhemd, über dem eine Weste ihre Brüste verbarg. Dann stieg sie in die schweren, kniehohen Lederstiefel, versteckte ihr langes, blondes Haar unter einem Kopftuch und setzte sich den abgewetzten schwarzen Hut auf. Sie wischte einmal mit der Hand über den schmutzigen Fenstersims und verrieb den Dreck in ihrem Gesicht.
Mit einem kurzen Blick in den schon fast blinden Spiegel überzeugte sie sich von der Wirksamkeit ihrer Verkleidung. Den Ring ließ sie in einer kleinen Tasche im linken Stiefel verschwinden.
Dann folgte sie Louis auf den Flur hinaus.
„Na, sowas!“ Louis staunte nicht schlecht ob ihrer Verwandlung. „Ganz schön gewieft.“
Claudette verdrehte nur die Augen. „Ja ja, los jetzt. Wo lang?“
„Hier entlang“, antwortete Louis, deutete nach rechts den Gang entlang und ging voran.
Am Ende des Ganges führte eine Tür in eine Art Lagerraum. Dort öffnete er das Fenster und spähte hinaus.
„Okay, die Luft ist rein. Von hieraus können wir auf das Dach des Nachbarhauses springen. Komm her. Siehst du den Mangobaum dort? Über den steigen wir herunter.“
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, ertönte von unten ein gewaltiger Schrei.
Offenbar hatte der Kapitän der
Golden Crab seinen Verlust bemerkt.
Im Schankraum des
Red Monkey herrschte plötzlich ein großer Tumult.
Kapitän Pears hatte in seiner überschäumenden Wut den Tisch umgeworfen. Die eine Hälfte seiner Piratenbande lag auf dem Boden und bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen. Die anderen saßen wie versteinert auf ihren Stühlen und starrten ihn verwundert an.
Dazwischen flatterte der ebenso verdutzte Papagei Neon krächzend umher.
„Bringt mir diese blonde Schlampe von einer französischen Hafennutte her. Sie hat meinen Ring gestohlen!“ Der Geifer flog ihm nur so von den Lippen und sein Gesicht war rot vor rasendem Zorn.
„Na, die hat ja wohl flinke Fingerchen“, stellte der völlig betrunkene Fenwick mit einem Grinsen fest und rieb symbolisch seine eigenen Finger aneinander, während er mit der Nase daran schnüffelte.
Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Pears seinen Säbel, schwang ihn durch die Luft und führte ihn zurück in die lederne Halterung an seiner Seite.
Die augenblicklich eintretende Stille im Saal wurde nur durch das Wimmern des Hugenotten
gestört, der seine blutende Hand hielt und auf die drei Finger starrte, die auf dem mit Sägespänen bedeckten Boden lagen.
Erstaunlicherweise lagen sie zu einem perfekten gleichschenkligen Dreieck angeordnet dort, in dessen Mitte sich gerade eine Papageienfeder gesellte.
„Möchte hier noch jemand ein Witzchen zum Besten geben?“, fragte der Kapitän mit zusammengebissenen Zähnen.
„Na, dann seht mal zu, dass ihr in die Puschen kommt!“, schrie er seine Männer an und bedachte die, die ihm am nächsten waren, mit einer weiteren Ladung Speichel.
„Ich denke, wir sollten uns beeilen“, sagte Louis und schon war er aus dem Fenster gesprungen. Claudette folgte ihm, ohne eine Sekunde zu verlieren, nach.
Miteinander rannten sie über das Dach des Nachbarhauses. Gefolgt von lange Schatten, die ihnen, die untergehende Abendsonne an ihre Fersen heftete. Ohne zu Zögern sprangen beide in den nahestehenden Mangobaum. Behände kletterte unser tapferer Held hinunter und wartete mit ausgebreiteten Armen auf seine neue Komplizin. Diese ließ sich vom letzten Ast in seine Arme fallen.
Für einen kurzen Moment, trafen sich ihre Blicke und ihre Lippen waren sich so nah, dass beide den heißen Atem des anderen spürte.
Dann setzten sie ihre Flucht in Richtung Hafen fort.
Sie mieden die breiteren Straßen und hetzten stattdessen durch die engen Gassen.
'Hoffentlich ist einer meiner Leute mit einem Boot am Kai', betete Louis im Stillen.
Als sie kurz darauf am Hafen ankamen, gingen sie hinter ein paar Fässern in Deckung und sondierten die Lage.
Schnell hatte Barrot einen seiner Männer ausgemacht und ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht.
Mr. Bartholomew Stevens, der Schiffsarzt der
Antigone, schlenderte gelassen den Pier entlang und betrachtete mit gemischten Gefühlen, die sich auftürmenden, dunklen Wolken am Horizont. Lange würde das Sturmtief nicht mehr auf sich warten lassen.
In diesem Teil der
Welt, hatten Stürme eine ganz andere Qualität, als in Kent. Er vermisste den milden, englischen Landregen. Er vermisste hier so vieles an seiner
zivilisierten Heimat.
Da hörte er unvermittelt jemanden seinen Namen rufen. Stevens schaute sich um und sah seinen Kapitän auf sich zukommen. Er wunderte sich über dessen seltsam gehetzt und gleichsam verstohlen wirkenden Gang. Und über den schmächtigen Matrosen an seiner Seite.
„Gut, euch hier zu treffen, mein Freund“; raunte Louis ihm zu. „Ich vermute, ihr habt ein Boot hier, das auf euch wartet.“
„Ja, Patrick wartet mit der Schaluppe unten am Kai. Was ist denn los? Und wer ist das?“
„Erkläre ich euch später. Los jetzt, es eilt!“
Schon machte Louis sich auf den Weg zum Kaiende. Als auch der fremde Matrose ihm nach hastete, folgte auf Bartholomew ihnen nach.
Sie hatten soeben das Beiboot der Antigone bestiegen, als sie lautes Rufen hinter sich vernahmen. Schon ertönte ein Schuss und eine Kugel pfiff über sie hinweg.
„Los jetzt, hisse das Segel“, fuhr Louis den verdutzten Patrick, einen jungen, rothaarigen Iren aus Limerick an. Der Junge reagierte sofort und begann mit geübten Handgriffen das Segel hochzuziehen. Louis ergriff ein Ruder und stieß sich von der Kaimauer ab.
Dank des aufkommenden Windes, nahm das Boot schnell Fahrt auf.
Zwei weitere Kugeln flogen ihnen um die Ohren, dann waren sie auch schon außer Reichweite.
Louis blickte zum Kai hinüber und erkannte Jacobs, den ersten Maat der
Golden Crab und neben ihm einen schwarzen Hünen, dessen Name ihm aber nicht geläufig war.
Dann sah er Kapitän Pears mit weit ausholenden Schritten den Pier hinunterstürmen.
Trotz der Entfernung hörten sie allen des Kapitäns donnernde Stimme über das Wasser zu ihnen herüberschallen.
„Barrot, ich werde dich kriegen, dir dein Herz herausreißen und die Möwen damit füttern. Hörst du mich, du elender Schweinepriester?“
In einem Anfall von Größenwahn und von angefeuert von dem Adrenalin, das durch seine Adern floss, zog Louis seine Hose herunter und streckte dem tobenden Pears seinen blanken Hintern entgegen.
Claudette, die dabei gleichsam auch einen Blick auf sein Gemächt werfen konnte, war einigermaßen beeindruckt. Auch von seiner Kühnheit. Stand der Kapitän der
Golden Crab doch nicht in dem Ruf, eine Beleidigung leichtfertig abzutun oder jemals aus seinem
Gedächtnis zu streichen.
Als er sein Beinkleid wieder geordnet hatte, setzte sich Louis neben sie und lächelte sie an.
„Eine gelungene Flucht, möchte ich meinen. Jetzt könnt ihr euch sicher
fühlen. Na, was sagt ihr?“
„Ich sage, ihr habt euch gerade einen Feind fürs Leben gemacht. Uns sicher fühle ich mich noch lange nicht.“
„Da hat der junge Bursche sicher recht“, sagte auch Stevens und nahm ihm den großen Hut ab.
„Aber, mein Freund, erklärt mir nun einmal, wenn ich hier vor mir habe“, sprach er weiter.
„Mich dünkt, dieser Bursche, ist gar keiner. Oder zumindest ein überaus hübscher. Ich wusste gar nicht, dass ihr die Vorlieben von Kapitän Pears teilt.“
„Ich erkläre euch das alles, wenn wir auf der
Antigone sind und die Anker gelichtet haben. Wir müssen den aufziehenden Sturm nutzen. Er wird uns
schützen, bis wir genug Seemeilen zwischen uns und die
Golden Crab gebracht haben.“
Während der Überfahrt, bemerkt Claudette die verstohlenen Blicke, die ihr der Mann, der ihr gegenüber saß, zuwarf. Sie kannte diese Blicke nur zu gut. Diese Blicke der Männer begleiteten sie schon fast ihr ganzes Leben. Kaum war sie dem Kinde entwachsen, hatte es begonnen. Selbst die Pfaffen des Klosters in Pierrevillers, dem Dorf nahe Metz, in dem sie aufgewachsen war, hatten ihr nachgestellt.
In ihnen war weder Liebe noch
Leidenschaft. Es war nichts als Gier, die aus ihnen sprach.
Doch sie hatte früh gelernt, sich dieses Verlangen der Männer zunutze zu machen. Durch manchen harten Winter hatte sie ihre arme Familie gebracht, in dem sie sich den fetten Mönchen hingab und dafür mit Essen belohnt wurde.
Und als ihre Eltern beide, auf dem Weg zum Markt in Metz, von Wegelagerern ermordet wurden, blieb ihr im Alter von gerade mal vierzehn Jahren nur der Weg ins Kloster oder in die Hurerei. Sie war fest entschlossen sich ihren
Anteil am Kuchen zu nehmen, kostete es was es wolle.
Und dieser fein gekleidete Herr ihr gegenüber könnte ihr dabei eventuell noch hilfreich sein.
Wie zufällig blickte sie ihm in die Augen, als er wieder zu ihr herübersah und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
Ja, ihn würde sie zu ihrem Ass im Ärmel machen, sollte dieser dumme Kapitän versuchen, sie um ihren fairen Anteil am Ring zu betrügen.
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