Tante Renate
Kaffeekränzchen bei Tante Herta ist immer was Schönes. Opa Rainer und Oma Hilde haben sicher den fünften Eierlikör intus. Sie sitzen wie zwei alberne Teenager hinten am Fenster, halten Händchen und
küssen sich.
Es duftet nach Bohnenkaffe und dieses Aroma vermischt sich mit dem Geruch frischer Wandfarbe. Tante Herta hat ihre Wände im Wohnzimmer
lila streichen lassen und die weißen Stuckleisten an der Decke kommen schön zur Geltung. Letzte Woche ist das Zimmer fertig geworden. Es wirkt moderner oder wie sie sagt: „... etwas mehr Pfiff!“. Meine Blicke schweifen im Raum umher. Sonst hat sich fast nichts hier geändert: Die Sonne scheint durch die weißen Gardinen, die dank der Bleiborde akkurat vor dem Fenster hängen. Am Kronleuchter glitzern die Glasperlen
glitzern über uns wie Diamanten und der abgewetzte Teppich am Boden müffelt nach alten Zeiten.
Von der monströsen Schwarzwälder Kirschtorte auf dem riesen Kaffeetisch, ist ein dickes Stück übrig. Das bekommt dann Onkel Richard püriert mit einem ordentlichen Schuss Eierlikör dazu. Er sitzt im Wintergarten und macht im Rollstuhl sein Nickerchen. Tante Herta hat ihn dort zur Strafe hingeschoben. Er hat wieder vom
Adventskalender alle Schokoladentaler heimlich raus geklaut und die Türchen zugedrückt. Als ob seine Frau das nicht merken würde. Jedes Jahr das Gleiche. Sie vergisst allerdings auch, den Kalender außer Reichweite aufzuhängen. Man könnte fast meinen, dies ist eine jährliche Inszenierung und mit Traditionen in unserer Familie soll ja nicht gebrochen werden. Das bringt Unglück.
Die Kuchen und Torten von Tante Renate
schmecken immer am besten. Das kann man ihr noch so oft sagen, sie winkt nur ab, verschwindet in die Küche, scheppert mit dem Geschirr und dreht ihr Radio laut. In Gesellschaft sitzen war nie ihr Ding, glaub ich. Lob mag sie nicht und auch ihr geht nie ein Wort des Lobes über die Lippen. Wenn sie nicht schimpft ist das gelobt genug.
Onkel Berni sitzt am Kopfende und reißt wieder schlüpfrige Witze. Tante Gerda ist das peinlich und um davon abzulenken erzählt sie einfach was ganz anderes. Heute erklärt sie stolz, dass ihr Mann nun „Nachrichten über das grüne Kästchen“ schicken kann.
Ich habe ihm gestern Whats App installiert und um meinen Onkel die Funktion der App zu erklären nahm gut und gerne vier Stunden in Anspruch. Heute Morgen hat er mir dreissig Sprachnachrichten gesendet von je einer bis zwei Sekunden. Als Profilbild verwendet er ein
Schlumpfgesicht und Tante Gerda findet, dass sich sowas nicht gehört. Onkel Berni lächelt
verschmitzt hat aber aufgegeben Sprüche, die unterhalb der Gürtellinie sind, zum Besten zu geben.
Ich werde aus den Gedanken gerissen, als mir Renate ungefragt ein dickes Glas
Gewürzgurken vor meine Kaffeetasse abstellt und sich dann die feuchten Hände an der grünen Kittelschürze abwischt. „Marmelade gibts erst wieder nächstes Jahr. Ihr fresst mir ja noch die Haare vom Kopf.“, sagt sie unterm Gehen, bevor sie in der Küche verschwindet.
Ach Renate, harter Kern und harte Schale aber auf sie kann man sich immer verlassen. Als ich einmal dem Auto auf der Strecke von Boberow nach Grabow liegen blieb, ist sie, ohne zu zögern um zwei Uhr nachts bei Regen mit dem Traktor eine Stunde lang gefahren, um mich abzuschleppen. Mit einer Zigarette zwischen den Lippen streckte sie mir eine Thermoskanne Tee mit einem kräftigen Schuss Rum entgegen und mit der anderen Hand hielt sie das Lenkrad im festen Griff und steuerte über Feldwege.
Wenn es Renate nicht gäbe, wären wir alle nicht hier am Tisch. Ich wünsche mir, dass sie sich mal hinsetzt und einen Kuchen mit uns isst. Ein kleines Stück von der Torte schneide ich ab, lege es sorgsam auf einen Teller mit einer zusammengefalteten Blümchenserviette und stelle es ihr wortlos auf Küchenanrichte.
Ohne sich nach mir umzudrehen, höre ich ihre brummige Stimme: „Danke. Liebes.“