SALVADOR
• Tantiemen
• überzeugt
• Fragebogen
• schrill
• Kunstschnee
• pink
• Lautsprecher
• fassungslos
„Weihnachtskarten sollte er entwerfen. Ausgerechnet er, der ‚Göttliche‘, mit seinen delikaten Motiven.“ Er schmunzelte. Den Deal mit Hallmark hatte seine Frau eingefädelt. 15.000 Dollar Vorschuss hatte er dafür erhalten, plus Tantiemen aus dem Verkauf. Für 10 Entwürfe. Typische Weihnachtsmotive, jedoch in seinem Stil. Die Summe hatte ihn schließlich überzeugt, den Auftrag anzunehmen.
Er blickte hinaus aus dem Fenster. Auf dem Trottoir herrschte geschäftiges, vorweihnachtliches Treiben und aus den Lautsprechern des Bekleidungsgeschäfts dudelte Weihnachtsmusik. Die Schaufenster vis-à-vis waren mit schrillen, pinken Christbäumen gestaltet, die von weißem Kunstschnee berieselt waren. „Die Amerikaner haben einfach keinen Stil“, dachte er fassungslos.
Den Fragebogen von Hallmark zu seiner Vita schob er achtlos beiseite. Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, wie stets, wenn er malte. Ein Engel, Jesus, Madonna, Tannenbaum - Erste Skizzen entstanden mit Tinte und Wasserfarben auf Zeichenpapier. Seine Bilder stiegen aus seinem Unterbewusstsein hervor und suchten sich einen Platz auf der Leinwand.
„Jesus Geburt… Gottes Sohn… meine Geburt… mein Name.“ Er trug den Namen seines verstorbenen, älteren Bruders. „Salvador, Erlöser, Heiland.“ Sein Bruder war im Alter von 22 Monaten an einer Hirnhautentzündung verstorben und seine Eltern hatten nichts Besseres zu tun, als ihm den Namen des Erstgeborenen zu geben? Als ob er kein Geburtsrecht auf ein eigenes Leben hätte. Diente er als Ersatz für seinen Bruder? Wer war er? Wer sollte er sein? „Sie waren sich ähnlich“, sagte Mutter, „rein äußerlich schon.“ Er glaubte ihr nicht. Er war anders. Das spürte er. Seine Eltern ließen ihn meist gewähren. Er bekam keine Schranken, stattdessen so viel Liebe, wie ein Kind sich nur wünschen konnte. Er fühlte seine Genialität. Mit 6 Jahren wollte er Koch werden, mit 10 Napoleon und danach Gott. Früh hatte er das Malen für sich entdeckt und seine Eltern förderten sein Talent.
Sigmund Freud und seine Theorien über die anal-sadistische Phase kamen dem Künstler in den Sinn.
Mit drei Jahren bekam er ein Schwesterchen. Sein Vater hatte die Kleine „zum Fressen gern“. Er biss in ihre Finger und ihre Füße und stieß dabei komische Laute aus, wenn das Baby gluckste. Sie war ein wohlgenährtes, rosiges Baby. Salvador hasste sie von Beginn an. Er beobachtete, wie seine Mutter die Kleine an ihre weiche Brust legte und ihr die Brustwarze in den Mund presste. Er liebte die weichen, prallen, warmen Brüste seiner Mutter. Er schmiegte sich gerne an sie. „Was machst du da?“ fragte er die Mutter. „Ich füttere sie. Sie hat Hunger.“ Salvador legte die andere Brust frei und biss mit seinen spitzen Zähnen kräftig in die Brustwarze. Seine Mutter schrie vor Schmerzen auf und stieß ihn zurück. Salvador schmeckte Blut. Er spuckte es aus. Seine Mutter schalt ihn tüchtig. Er sah auf die blutende Brust. Was hatte er falsch gemacht? Er lief weinend davon und ließ seine Wut an einem Hund aus, den er kräftig trat. Später biss er in eine tote Fledermaus, doch der Geschmack von Blut und Verwesung ekelte ihn. Seither bevorzugte er Früchte mit saftigem rotem Fruchtfleisch. Kirschen, Granatäpfel oder Melonen.
Drei Jahre später trat er seiner verhassten Schwester gegen den Kopf. Es tat ihm so gut, dass zu tun. Er wurde schließlich mit drei Jahren ebenfalls verletzt. Es hatte so weh getan, von der geliebten Mutter verstoßen zu werden. Sie hatte es verdient. Gerade sie. Es bereitete ihm wahrlich eine ‚delirische‘ Freude.
Unbewusst malte er die heilige Maria und ihr Jesuskind, das im Stroh lag und seine Hände nach der Mutter streckte. Mit einer Geste wehrte Maria den Josef ab, während sie zum Engel aufblickte. Der Engel bekam die anmutige, schlanke Gestalt seiner Frau Gala. Den Kopf ließ er weg. Die Engelsflügel bildeten die schneebedeckten Berge seiner katalanischen Heimat. „Die schöne Gala vögelt herum und treibt es mit jungen Burschen, feiert Orgien und er finanzierte mit seiner Kunst diesen Lebenswandel auch noch? Er, der ‚große Masturbator‘ und seine Muse!“ Ärgerlich setzte er einige markante Striche mit dem Pinsel. Trotzdem sah er ihr gerne beim Liebe machen zu und wichste. Er hatte seinen Penis seinerzeit mit einem Klassenkameraden verglichen und für zu klein befunden. Später hatte er die Violine seines Kameraden zerstört und proklamiert, dass die Kunst der Musik überlegen war.
Er malte Josef als Mann ohne Augen, blind, mit dem roten Strumpffetzen am Bein. Josef hatte ein Band des Schleiers in der Hand. „Er würde dem Engel bestimmt gerne den himmlischen Schleier herunterreißen? Will Josef sehen, wer der Vater des Kindes ist? Nein, will er sicher nicht,“ dachte Salvador, „Josef, der Schlappschwanz, sitzt einfach nur da und sieht nichts. Konnte wohl auch keine Kinder zeugen. Der ‚heilige Geist‘ hatte Maria geschwängert? Dass ich nicht lache. Fremdgegangen ist sie. Hat sich schwängern lassen. Von wegen heiliger, unbefleckter Empfängnis ohne Geschlechtskrankheiten.“ Josefs Kopf wirkte auf dem Papier wie ein Loch im Felsen. Natürlich nicht wie der Fels auf dem Christus seine Kirche baute.
Der Maler schwang selbstvergessen seinen Pinsel und dachte daran, wie er einst seinen Klassenkameraden eine Brücke herunter, fünf Meter tief, auf die Felsen warf. Den ganzen Nachmittag haben sie blutige Schüsseln aus dem Zimmer des Unfallopfers getragen, während er Kirschen aß und die Szenerie beobachtete. Kirschen schmeckten besser als Blut. Obst schmeckte besser als Blut. Er schmiss sich gerne mal die Treppe herunter und genoss dabei die Schmerzen.
Er malte eine Brücke in den Hintergrund und darauf die Heiligen Drei Könige. Die Arkaden der Brücke bildeten auf den ersten Blick eine Laute. Auch der Engel bekam eine Laute. Doch bei näherem Hinsehen entpuppte sich Josefs Laute als Mundharmonika. Der Engel spielte als Minnesänger die ‚Laute‘ der Maria, während Josef nur blies. Blies kommt von Blasen. Aber Josef war sicher ein treuer Mann, der seine Pflichten als Ehemann, trotz seiner mutmaßlichen Homosexualität, erfüllte.
Ihm kam die Zeit bei seinem Lehrer der Malerei in Erinnerung. Die junge Tochter einer Lindenblütenpflückerin hatte Brüste wie zwei Spiegeleier. Er hatte sie heimlich beim Baden beobachtet, doch er konnte sie nicht für sich gewinnen. Darum betrachtete er stattdessen die schweren, hängenden Brüste ihrer Mutter und ersann immer neue Fantasien, um sich zu befriedigen.
Einmal fand er auf dem Dachboden einer alten Mühle eine Krücke und eine Krone. Seine Insignien der Macht wurden zum erotischen Fetisch. Er stellte sich vor, seinen Schwanz, der nie richtig hart wurde, mit der Krücke zu stützen. Er imaginierte, wie er mit der Krücke die schweren, hängenden Brüste der Lindenblütenpflückerin abstützen würde. Dann nahm er reife Melonen, hing sie an die Decke, legte sich darunter und drückte die Krücke so lange in eine Melone, bis sie brach und das Fruchtfleisch auf ihn tropfte und er ejakulierte.
Um ihm das Onanieren und das Malen mit seinen Exkrementen abzugewöhnen, hatte ihm sein Vater einst verstörende Bilder von Syphiliskranken im Endstadium gezeigt. Eiternde Narben an Genitalien, schreckliche Wundmale in ausgemergelten Körpern, zerfressende Gesichter und entstellte Gebisse. Die Wunden erinnerten an die einzigartigen, löchrigen Felsen von Cadaqués und Figueras. Seit frühester Jugend begleitete ihn seine Furcht vor Geschlechtskrankheiten. Ständig war er in dem Glauben, er sei verrückt. Seine 10 Jahre ältere Frau hatte ihn schließlich vor dem Wahnsinn gerettet. Sonst würde er noch immer wichsend im heimischen Waschzimmer hocken, mit dem Finger im Arsch und dem roten Strumpf seines heimlichen Geliebten auf dem Schoß.
„Mein kleiner Junge. Niemals werden wir uns verlassen.“ hatte sie ihm gesagt, als er sich vor ihr in den Staub warf und ihr seine Besessenheit erklärte. Sie hatte begriffen, dass sie es mit einem Genie zu tun hatte. Er war damals 25 Jahre alt und immer noch Jungfrau, so wie die heilige Maria.
Mit diesem Gedanken beendete er seinen Entwurf. Einige Zeit später erhielt er Nachricht von Hallmark. Von 10 Motiven wurden nur 2 genommen. Die anderen seien zu verstörend.
Dieses Motiv wurde abgelehnt.
Anmerkung der Verfasserin: Ich bin - eng anhand der Biographie von Salvador Dali - der Frage nachgegangen, wie ein Künstler auf seine Ideen kommt. Alle Begebenheiten sind entweder vom Künstler überliefert, wahr oder frei von mir erfunden. Viel Spaß beim Googlen 😉