Der Zweck heiligt die Mittel
• heilig
• unorthodox
• Energie
• Rücksicht
• verzagt
• Rolle
• Mund
• Himmel
„Der Suppentent kommt!“ Aufgeregt stürmte Fräulein Walburga Lämmle in das Büro ihres Dienstherrn und trippelte nervös von einem kompressionsbestrumpften Bein auf das andere, während sie mit einem Brief in ihrer Hand wedelte. „Soll er doch kommen.“ erwiderte der Pfarrer abwesend und vertiefte sich wieder in seine Predigt.
„Herr Pfarrer, der SUPPENTENT kommt in der Woche vor WEIHNACHTEN!“ Nachdrücklich formte sie die Worte in ihrem Mund und der Pfarrer verstand. „Fräulein Walburga, das heißt Superintendent. Wie oft soll ich es noch erklären.“ Dann wurde er blass. Der Superintendent war der leitende Geistliche des Kirchenkreises. Pfarrers Stirn schlug Falten. Er fasste sich an den Kopf und begann die Zeilen zu lesen, die in dem Brief standen.
Der Superintendent würde sich gerne einen Eindruck über die verschiedenen Kirchengruppen machen, Gottesdiensten beiwohnen und ganz sicher auch das Krippenspiel sehen wollen, von dem er schon so viel gehört hatte, schrieb er in seinem Brief.
„Oh, mein Gott.“ sagte der Pfarrer laut und bekreuzigte sich entschuldigend gen Himmel.
„Ausgerechnet jetzt.“ Viel war in seiner Kirche nämlich nicht mehr los. Seit der Pandemie blieben viele gläubige Schäfchen der Kirche fern und manche waren gar gestorben. Dank der verdammten Energiekrise war die Gemeinde mittlerweile gezwungen, die Gottesdienste mit mehreren Kirchengemeinden zusammenzulegen, um Energie zu sparen. Und außerdem fand gerade die unselige Fußball-Weltmeisterschaft statt. Von einem normalen Gemeindeleben war aktuell gar nicht zu sprechen.
„Fräulein Walburga, woher zum Teufel sollen wir nur die Menschen für das Krippenspiel bekommen? Dem Aufruf im Kirchenblatt vor ein paar Wochen ist niemand gefolgt.“
Walburga Lämmle handelte: „Der Glaube ist der Anfang aller guten Werke, sagte schon Martin Luther!“ Sie rief eiligst den Pfarrgemeinderat zu einer abendlichen Sondersitzung zusammen. Wenn auch sonst nicht viel bei den Pfarrgemeinderatssitzungen herum kam, hatten einige doch eine zündende Idee, um sich und ihre Kirchengemeinde nicht vor dem Superintendenten zu blamieren.
Wenige Tage nach Weihnachten traf der Pfarrer auf den Geistlichen aus der Nachbargemeinde.
„Na, wie lief der Besuch des Superintendenten?“ fragte dieser mit besorgtem Blick.
„Ganz prima! Die Kirche war rappelvoll.“
„Wie ist das möglich?“ staunte der Geistliche nicht schlecht.
„Na ja, ich gebe zu, dass die Sache zunächst etwas unorthodox war.“ schmunzelte der Pfarrer.
„Uns fehlten jede Menge Leute für das Krippenspiel. Josef und Maria, der Verkündigungsengel, der König, der Wirt, die Hirten und weitere Engel sowie die drei Weisen aus dem Morgenland: Caspar, Melchior und Balthasar. Vom Pfarrgemeinderat war bis auf unseren Zahnarzt aus Nigeria, der einen der drei Weisen mimen wollte, keiner bereit, eine Rolle zu übernehmen. Bauer Vögele wollte uns lediglich einen Zwergesel, zwei Schafe und ein paar Strohballen leihen. „Dann wirke der Stall gleich viel authentischer“, meinte Vögele.“
„Das war doch nett.“ warf der Geistliche ein.
„Das war es. Jugendrichter Wiesentreter hatte die glorreiche Idee, seinen Delinquenten in minderschweren Fällen Sozialstunden in der Pfarrgemeinde aufzubrummen. So sind wir an die Hirten gekommen.“
Der Geistliche zog erstaunt die Augenbrauen hoch, doch der Pfarrer berichtete unbeirrt weiter:
„Wie Luther schon sagte: Aus einem verzagten Arsch, kommt kein fröhlicher Furz. Bei der Rolle des Engels dachten einige direkt an Christos. Du weißt ja, er ist groß, blauäugig und hat lange, weißblonde Locken. Ein weißes Nachthemd, Heiligenschein und Flügel aus Pappe und fertig war der Engel.“
„Was? DER Christos, der Wirt vom „Akropolis“? Der den Mädels vom Service immer als erstes direkt eins auf den Hintern haut? Der ist doch gar nicht evangelisch.“
„Da konnten wir keine Rücksicht drauf nehmen. Uns fehlten die Leute!“
„Der hat doch niemals zugesagt!“
„Doch, aber dafür müssen wir im nächsten Jahr die Hälfte der Pfarrgemeinderatssitzungen bei ihm abhalten.“
„Das ist Erpressung!“
„Aber der Zweck heiligt die Mittel.“ konterte der Pfarrer.
„Und die anderen Rollen?“
„Wir haben unsere Konfirmanden hinzugezogen. Die sind am nächsten Tag ausgeschwärmt und haben für unserer Projekt geworben.
„Das machen die doch nicht freiwillig in dem Alter?“
„Nun, ich habe ihnen dafür ein paar sonntägliche Pflichtmessen erlassen.“ grinste der Pfarrer und knuffte den Geistlichen in die Seite.
„Zwei Väter der Konfirmanden erklärten sich bereit, einen der drei Weisen zu spielen und ein Konfirmand hat seine Deutschlehrerin gefragt. Die hatte zwar keine Lust, mitzumachen, hat aber einen entscheidenden Tipp gegeben.“
„Und der wäre?“
„Fragt mal in dem Haus, wo die Geflüchteten mit ihren Kindern wohnen. Die Lehrerin erteilte dort Deutschunterricht und meinte, dass sich die Frauen sicherlich über etwas Abwechselung freuen würden.“
„Aber die sind doch auch nicht evangelisch, oder?!“ rief der Geistliche empört.
„Gott hat alle seine Schäfchen lieb.“ entgegnete der Pfarrer streng.
„Und wie ging es weiter?“
„Die Konfirmanden besuchten die Menschen in dem Flüchtlingswohnheim. Als sie sahen, dass die Geflüchteten nur das Nötigste besaßen, motivierten sie ihre Eltern, Möbel und Kleidung zu spenden und halfen bei Renovierungsarbeiten. Sie selbst trennten sich von Spielsachen und gaben sie den Kindern. Die Eltern gründeten daraufhin einen christlichen Helferkreis und besuchten Menschen in der Gemeinde, denen es nicht so gut geht. Außerdem luden sie die Geflüchteten und ihre Kinder in unser Gemeindehaus zu Punsch und selbstgebackenen Plätzchen ein. Dort trafen die Geflüchteten zufällig auf zwei ältere Damen vom ehemaligen Basarkreis, die allein am Kachelofen saßen und strickten. Ein paar Leute hatten auch Lust auf Handarbeiten, Basteln und Werken und nun haben wir wieder einen Basarkreis in der Gemeinde.“ frohlockte der Pfarrer zufrieden und fuhr fort: „Einige haben die Kostüme für das Krippenspiel genäht. Und eine Krabbelgruppe für die Jüngsten wurde auch neu gegründet. Die Kinder haben mit den Konfirmanden Walnüsse und Fallobst gesucht und daraus Bratäpfel im Kachelofen gezaubert. Das kam so gut an, dass sogar die Sozialstunden-Jungs freiwillig länger blieben, weil es so gemütlich war.“
„Das ist ja allerhand, was in deiner Gemeinde passiert. Da wird der Superintendent gestaunt haben.“ sagte der Geistliche.
„Ja, er war sehr zufrieden mit unserem beispielhaften Gemeindeleben, wie er sagte.“ erwiderte der Pfarrer kichernd.
„Und wie ging es dann mit dem Krippenspiel weiter?“
„Maria und Josef haben wir schließlich auch noch gefunden. Ein junges Ehepaar, dass gerade erst zu uns in die Gemeinde gezogen war und Anschluss suchte. Und weil so viele Menschen involviert waren, kamen natürlich auch alle, um das Krippenspiel zu sehen.“
„Ging denn alles gut?“ erkundigte sich der Geistliche.
„Im Großen und Ganzen schon.“ lachte der Pfarrer. „Das Jesuskind wurde allerdings zwei Tage vor der Aufführung gestohlen. Doch unsere Crime-Lady Miss Walburga Lämmle hat den Fall schließlich aufgedeckt. Eine Dame aus dem Basarkreis hatte dem Jesuskind einen Strampler gehäkelt und ihn zur Anprobe ausgeliehen. Der Christos hat bei der Probe der Maria kräftig eins auf den Hintern gehauen und Maria hat ihm daraufhin postwendend eine geknallt. Den Burschen habe ich dann aber tüchtig ins Gebet genommen, sage ich dir.“
Der Pfarrer bewegte seine Arme, als ob er jemanden segnen wollte.
„Der kleine Esel hat immer laut Iiii-Aaaa geschrien, wenn Christos mit seinen Armen gewedelt hat. Das sorgte für eine gewisse Erheiterung in der Gemeinde. Ach ja, die Schafe haben direkt vor den Altar geschissen. Ein Kind ist vom Weihrauch ohnmächtig geworden und ein Hirte hat seinen Stock am Adventskranz entzündet, weil ihm langweilig war. Der Chor der Engel hatte einen starken ukrainischen Akzent, als sie das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ anstimmten, aber das fiel gar nicht so schlimm auf.“
„Ich muss jetzt weiter,“ sagte der Geistliche lachend und schüttelte fassungslos mit dem Kopf.
„Nur eins noch. Was sagte der Superintendent am Schluss?“
„Ach, der war ganz zufrieden. Insgesamt hätten wir einen wunderbar erfrischenden, ökumenischen Ansatz in der Gemeinde. Nur zu unserem Weisen, der ja ursprünglich aus Nigeria stammt, machte er eine Bemerkung. Dem Weisen aus dem Morgenland ein schwarzes Gesicht zu malen, das mache man heute nicht mehr. Das sei kulturelle Aneignung.“