Am Tag, als der Regen kam
Was waren das noch für Zeiten, als laue Sommerabende nach Erdbeeren dufteten, nach Jasminblüten und frisch gewaschenen Baumwolllaken! Sie flatterten im Wind, wenn Marlies am Abend mit ihren älteren Schwestern nachhause kam, nach einem langen Tag auf den Feldern. Müde waren sie, ja, doch zufrieden und so unbeschwert. Und später, nach dem Abendbrot, saßen sie zusammen mit den älteren Burschen unter der großen Linde am Fluss, kichernd und schwatzend und mit roten Wangen, bei einem Glas Most oder auch zwei.
Ganz in ihren Erinnerungen versunken, strich Marlies über ihre verblichene Kittelschürze und lächelte. Damals glich sie einem graziösen Apfelbäumchen und ihr Herrmann hatte die schönsten blauen Augen, die ein Mädchen sich nur vorstellen konnte. Und er küsste sie das allererste Mal.
Doch Herrmann war nun schon seit drei Jahren tot, Gott hab ihn selig. Wie sehr sich die Welt verändert hatte in all der Zeit! Die Gegensätze und Spannungen waren schärfer geworden, die Entwicklung der Welt glitt ab in Extreme – auch, was das Wetter betraff.
Seit Wochen schon waren die Temperaturen auf über 35 Grad gestiegen, die Gluthitze versengte das ganze Land. Die Erde war verbrannt, die Felder verdorrt. Der Fluss war bis auf ein dünnes Rinnsal ausgetrocknet. Der knochentrockene Boden hatte den Menschen nichts mehr zu geben. Die Ernte war mager, die Bauern verzweifelt. Menschen, Tiere und Pflanzen – alle dürsteten nach Wasser. Doch der erhoffte Regen jedoch blieb aus.
Marlies wischte sich den Schweiß von der Stirn und trat den Rückweg an. Schwer stützte sie sich auf ihren Gehstock, ihr geblümtes Kittelkleid war schweiß getränkt. Einer Ohnmacht nahe, schleppte sie sich ins Haus und sank auf die Chaiselongue, dankbar für die Kühle, die sie im Haus umfing. Der Schlaf zog sie augenblicklich in seine Arme.
In ihrem Traum war sie wieder ein junges Mädchen. Es war Sommer und sie lief durch wogende Weizenfelder. Doch bei jedem ihrer Schritte verdorrten die Pflanzen vor ihren Augen, wie in einem brutalen Zeitraffer. Abrupt blieb sie stehen, drehte sich nach allen Seiten.
Ein sekundärer Prozess des Aggregatzustands von reiner Biomasse,schoss es ihr durch den Kopf. Wo hatte sie das bloß aufgeschnappt?
Ein Zischen und Grollen unterbrach das Zirpen der Zikaden. Marlies legte den Kopf in den Nacken und blickte in flirrenden Himmel. Die Schäfchenwolken veränderten ihre Formen in rasender Geschwindigkeit und verdichteten sich zu einem furchteinflößenden Wesen. Es war Kronos, der Gott der Ernte, der sich ihr hier zeigte. Und dieser Gott war wütend, sehr wütend. Mit seinem Feueratem versengte er das Land und brachte Dürre, Hunger und Tod.
In ihrer Verzweiflung rief sie nach dem zürnenden Gott: „Bitte zeig dich und vernichte uns nicht, Kronus, ich flehe dich an! Wir Menschen kommen um in deiner Glut! Sprich mit mir! Was verlangst du von uns?“
Statt einer Antwort sandte Kronos zornige Funken, die einzelne Strohfeuer in den Feldern entflammten. Schnell brannte alles um sie herum lichterloh. Marlies drehte sich panisch um die eigene Achse, doch es gab keinen Ausweg. Sie war umgeben von Feuer und die Flammen kamen unaufhaltsam näher und leckten bereits mit am Saum ihres Kleides.
Der Feuersturm loderte hell auf am Horizont, doch schließlich hatte Kronos ein Einsehen. Seine Stimme klang zornig und dunkel wie Donnergrollen: „Ihr seid so selbstsüchtig, ihr Menschen! Jahrhundertelang habt ihr die Erde ausgebeutet mit eurer Gleichgültigkeit und eurer Profitgier. Nun seht den Konsequenzen ins Auge! Dieser Prozess ist nicht umkehrbar, das solltest du wissen!“
Benommen starrte Marlies auf die geisterhafte Gestalt, die den ganzen Horizont einnahm. Tränen rannen ihr über das rußgeschwärzte Gesicht. Ein weiterer Funkenflug schlug dicht vor ihr ein und ließ sie erschrocken zurückweichen.
Wieder erhob Kronos seine Stimme und sprach zu ihr:
„Ich sehe, dass es dich kümmert, kleine Marlies, doch ich verlange ein Opfer, von jedem von euch! Dann verspreche ich, mich vorerst zurückzuziehen. Doch es muss ein echtes, ein persönliches Opfer sein, habt ihr verstanden?“
Seine Stimme erstarb, während die Feuer am Horizont weiter loderten. Dann wurde es still um sie.
Die Hitze lag schwer auf ihrer Brust, als sie wieder zu sich kam und begriff, dass sie in ihrem eigenen Haus und damit in Sicherheit war. Kronos´Stimme durchdrang ihre Gedanken, seine Forderung nach einem Opfer setzte ihr zu und beschäftigte sie.
Grübelnd ging sie im Zimmer auf und ab, ihr Blick glitt suchend über die Bücherregale. Schließlich fand sie, was sie gesucht hatte, ein sehr altes Buch mit dem verwittertem Einband. Ihre Großmutter hatte es ihr geschenkt, als Marlies zwölf Jahre alt geworden war. Sie strich den eingestanzten Titel in altdeutscher Schrift: „Die Götter und ihre irdischen Helfer. Überlieferte Sagen und Legenden.“ Zufrieden ließ sie sich in Herrmanns Ohrensessel nieder und blätterte durch die vergilbten Seiten. Dann endlich offenbarte sich ihr, was zu tun war.
Der Horizont leuchtete golden, als Marlies sich endlich ein Herz fasste. Entschlossenen Schrittes stapfte sie zum verwaisten Stall hinter ihrem Haus. Ihre Füße steckten in den gelben Gummistiefeln und sie war mit einem kurzen, scharfen Küchenmesser bewaffnet. Die Entscheidung war ihr nicht leicht gefallen, aber jedes Zaudern war jetzt fehl am Platz. Sie würde einfach tun, was zu tun war. Schließlich hatte sie einen Auftrag.
Als sie danach ins Haus zurückkam, zitterten ihr die Knie. Ihre Arme und Beine waren über und über mit Blutspritzern übersät. Ein paar Federn hatten sich in ihrem zerzausten Haardutt verfangen. Schwer atmend ging sie in ihre Küche und hielt ihre Hände unter fließendes Wasser.
Einst hatten sie viele Hühner gehabt auf ihrem Hof. Emma war ihre letzte und liebste Henne gewesen. Voller Dankbarkeit legte sie das Tier auf die Ablage neben der Spüle und entfernte sorgfältig die Federn. Sie arbeitete konzentriert, ohne sich minutiös an das ursprüngliche Rezept zu halten, zerkleinerte Feldfrüchte und fügte die geheimen Gewürze hinzu.
Stunden später, als die Sonne bereits hinter den Hügeln versunken war, richtete sie das fertige Mahl auf dem schönsten Essteller an, den sie finden konnte. Feierlich trug sie ihre Opfergabe hinunter zum Ufer. Ein heißer Luftstrom streifte sie, als sie das Opfer zu Füßen der alten Linde stellte.
Marlies trat einen Schritt zurück und betrachtete andächtig ihr Werk. Nun war es gut, mehr konnte sie nicht tun für den Moment. Sie war erschöpft und sehnte sich nach Schlaf.
Lange hatte sie noch nicht geschlafen, als ein dumpfes, rhythmisches Klopfen sie weckte, das Schlagen der Fensterläden an die Hauswand. Kurz darauf riss ein heftiger Luftzug das Schlafzimmerfenster auf, ein scharfer Luftzug zog durch den Raum. Einzelne Blitze durchbrachen die schwarzen Wolken, der Himmel flackerte grünlich. Es war ein Wetterleuchten, wie sie es lange nicht mehr gesehen hatte.
Marlies eilte nach draußen, barfuß und im Nachthemd, das um ihren mageren Körper flatterte. Über dem wolkenschweren Himmel nahm der Wind weiter Fahrt auf und fegte pfeifend über die Felder. Keuchend erreichte sie die alte Linde, die schwere Äste bogen sich unter der Wucht des nahenden Sturms. Marlies hielt den dicken Stamm solange umklammert, bis die ersten dicken Tropfen fielen. Der Gabenteller war verschwunden.
Im Nachbarhaus gingen die Lichter an, doch das kümmerte sie nicht. Sie schloss die Augen und reckte ihr Gesicht dem Regen entgegen, der jetzt im Stakkato auf ihren schmächtigen Körper einprasselte. Sie hielt dem stand und blieb eine Weile regungslos auf der Wiese stehen, gab sich dem ganz hin.
Schließlich öffnete sich ihr Mund zu einem lauten Siegesgeheul und die Starre in ihrem Körper löste sich. Mit einer ungeduldigen Bewegung zog sie sich das Nachthemd über den Kopf und schwenkte es wie eine Fahne, bevor es der Wind davon trug.
Dann breitete Marlies ihre Arme aus und begann, zu tanzen.