Die weiße Dame
Er stieg die Wendeltreppe hoch. Bald konnte er durch die kleinen, verstaubten Fenster über die Dächer der dem Dom gegenüber stehenden Häuser sehen. Auf Traufhöhe angekommen, sah er die Wasserspeier, wie sie ihre Fratzen in die Luft reckten um das Wasser wie die Sünden auszuspeien und so beides von dem heiligen Haus fernzuhalten. Jede dieser Fratzen zeigt ihr eigenes Gesicht, voll Wut und Abscheu - und Verlockung. Gut, dachte er, dass man die von unten nicht so genau sieht. Und Engel sah man kein an dem Bau, die Teufel schienen den Steinmetzen des Mittelalters doch faszinierender.
Er stieg höher, vorbei an der Glockenstube, vorbei an fotografierenden Touristen, er hielt sich nicht auf. Die Treppe endete in dem Raum, auf dem die Turmspitze ansetzte. Von hier konnte man auf einer Holztreppe im Inneren noch viel höher steigen, bis man eine kleine Plattform erreichte, von der sich eine Türe öffnete, durch die man einen schmalen, rundumlaufenden Balkon betreten konnte. Er trat hinaus. Tief unter ihm die Stadt, am Horizont die Industriebetriebe und die Kraftwerke, die ihre Rauchsäulen in den Himmel schickten. Er ließ die Aussicht nur kurz auf sich wirken. Dann zog er seinen Kompass aus der Tasche, nordete ihn ein. Sie hatte geschrieben, dass er bei 37 Grad weitere Weisungen erhalte. Er begab sich auf dem Umlauf an dem Punkt. Wartete bis eine Touristin weitergegangen war und sah sich um. In der Ritze zwischen zwei Mauersteinen entdeckte er einen kleinen gelblichen Zettel. Er zog ihn heraus. Darauf war eine Zeichnung mit einem Kreis. Die Stelle, an der er sich befand war mit einem Punkt gekennzeichnet, und genau gegenüber ein Kreuz gesetzt. Er umrundete den Turm. Auf der anderen Seite angekommen fand er in einer ähnlichen Mauernische einen weiteren Zettel. Hier war die schematische Zeichnung der Turmspitze abgebildet, und, ein Stück weiter oben angesetzt, ebenfalls ein Kreuz vermerkt. Er blickt nach oben. Steine, Vorsprünge, filigranes Mauerwerk. Sollte er sich von der Zeichnung verführen lassen, dort hinaufzuklettern?
Er sah nach rechts, nach links, die Touristin war offenbar wieder abgestiegen. Er war allein. Beherzt packte er einen herausragenden Stein und zog sich nach oben. Es war nicht schwer hier zu klettern, das Mauerwerk war leicht nach innen geneigt, und er war schwindelfrei, auch wenn die Höhe enorm war. Fasste Griff und Tritt. Die Stelle war gut gewählt. Auf der Seite des Turmes, die zum Kirchenschiff zeigte, so dass er von der Domplatte aus nicht gesehen werden konnte. Nach vielleicht acht oder zehn Metern stieß er auf eine kleine Öffnung. Er hätte sie fast übersehen, wenn nicht eine helle Stimme mit leichtem Lachen gesagt hätte: "Na, will er nicht in den Himmel steigen?" Er schlüpfte zwischen zwei Mauerrippen hindurch und stand in einem dämmrigen Raum, der von Lichtflecken überzogen war, die durch die Öffnungen im Sprengwerk des Turmes erzeugt wurden. Seine Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Als seine Iris sich angepasst hatte, sah er, dass das ein Zwischengeschoß war, das anders offenbar nicht zugänglich war. Der Raum war groß und hoch, man konnte von hier bis unter die Turmspitze blicken. Zwei Tauben flogen auf und schossen an ihm vorbei durch die Maueröffnung. Jetzt sah er eine weiß gewandete Dame, die sich von der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf ihn zu bewegte. Sie trug ein bodenlanges Kleid, altertümlich aufgebauscht, war das Damast? Er kannte sich mit Stoffen nicht aus, aber noch mehr als das Kleid faszinierte ihn ihr Gesicht. Sehr blass, fast so weiß wie das Kleid, umrahmt von tiefschwarzen Locken und sie hatte einen sinnlichen, Mund mit sehr rot geschminkten Lippen.
"Na", sagte sie, "Er ist doch gekommen."
"Ja, natürlich, ich liebe diese Abenteuer."
Deswegen hatte er sich ja auf diese Kontaktanzeige eingelassen, die ein Treffen an einem sehr besonderen Ort versprach, und höchste Genüsse, wenn die Chemie stimmt - es war in der Tat hoch... oben, und er wurde nicht enttäuscht. Sie legte ihm ihre Arme um die Schultern und bot ihm ihren Mund zum Kuss. Er umfasste sie, ihre Zungen begegneten sich, er spürte ihre Sinnlichkeit. Sie bog den Kopf zurück:
"Er macht das gut, mein Geliebter. Aber lass er sich doch zu einem besonderen Spiel verführen!"
Sie nahm seine Arme und hatte plötzlich, woher auch immer, eine Fessel aus schwarzem glänzendem Leder in der Hand. Sie band ihm die Hände auf den Rücken, er ließ es zu, in Erwartung besonderer Lüste. Sie bedeutete ihm sich niederzuknien, und er drückte sein Gesicht in den knisternden Stoff ihres Kleides über ihrem Schoß. Ihn umfing ein Geruch, sehr alt, fast muffig, pilzig, trüffelartig, aber seltsamerweise sehr, sehr erregend. Er merkte nicht, wie sie sich über ihn beugte und auch seine Füße fesselte. Sie gab ihm einen leichten Stoß, da er sich gefesselt nicht richtig halten konnte fiel er hintüber, und sie bückte sich über ihn, öffnete sein Hemd, fuhr mit ihren Händen über seine Brust. Ihre Finger fühlten sich an, wie wenn sie eine Feuerspur über seine Haut zog. Sie öffnete seinen Gürtel und seine Hose. Er war kurz davon angewidert, sich hier auf diesem Boden, auf dem der Staub und der Taubendreck von Jahrhunderten lag, mit ihr zu wälzen, aber seine Erregung überwältigte ihn. Sie setzte sich rittlings auf ihn und fixierte ihn mit ihren Schenkeln. Als er spürte, dass sie unter dem Kleid nichts anhatte, steigerte sich seine Erregung. Als sie ihn in sich aufnahm durchzogen ihn Schauer von Hitze und Kälte zugleich, das hatte er so noch nie gespürt, obwohl man nicht sagen konnte, dass er unerfahren war. Vergessen war der Schmutz in dem er lag, sein Körper vibrierte und Bilder von ungeheurer Farbigkeit stiegen vor seinen Augen auf. Aus Rot und Gelb schälten sich die Fratzen der Wasserspeier, die er beim Aufstieg gesehen hatte, und verzogen ihre Mäuler zu einem diabolischen Lachen.
Als sie nach dem Akt von ihm stieg, wand er sich am Boden, vollkommen berauscht von dem Erlebten. Er stammelte wirre Worte und erst nach und nach, als sie ihr Kleid über ihm weggezogen hatte, kam er wieder zu sich. Er sah verschwommen, Staub war in seine Augen geraten, wie sich die weiße Dame entfernte und aus seinem Gesichtskreis entschwand. Der Wind, der durch die Maueröffnungen pfiff, ernüchterte ihn. Er war immer noch gefesselt. Er bat sie, ihn loszumachen, aber sie antworte nicht. Er hörte auch keine Schritte, nichts, nur das dumpfe Hintergrundgeräusch der Stadt tönte zu ihm hinauf. Auf einmal er erschreckte ihn ein Klatschen und Flattern, die Tauben kamen zurück und ließen sich gurrend auf einem vorspringenden Stein nieder. Er fühlte sich von ihnen beobachtet, wie er sich bemühte, sich aufzurichten. Aber er war so perfide gefesselt, dass er steif dalag und sich nicht einmal hinknien konnte.
Nach einiger Zeit schaffte er es doch, sich etwas zu drehen. Im schwächer werden Licht des Abends sah er ihr Kleid in der Ecke, aus der sie gekommen war, als er in den Raum schlüpfte. Er rief sie, er schimpfte, er bettelte sie, ihn loszubinden, denn er begann zu frieren. Er empfand die Demütigung und Lächerlichkeit seiner Situation, hier im Staub, fast bewegungslos, mit heruntergezogener Hose und offenem Hemd, und sie sitzt in ihrer Ecke und weidet sich an seinem gequält sein. Es gelang ihm Zentimeter für Zentimeter zu ihr hin zu robben. Es wurde immer dunkler, aber die Beleuchtung des Domes wurde angeschaltet und im Wiederschein dieses Lichts, das durch die Maueröffnung direkt auf sie fiel, sah er ihr Kleid glänzen, so dass er die Richtung nicht verlor. Als er sie erreicht hatte, und wieder bitten wollte, ihn zu befreien, sah er nur in leere schwarze Augenhöhlen. Der sinnliche Mund war dem Grinsen des Gebisses im Totenschädel gewichen, der aus der Halsöffnung des Kleides ragte, die Locken grau, staubig und von Spinnweben überzogen. Ihn schauderte, und als er seinen Kopf vor Erschöpfung und Verzweiflung auf den Boden legte, sah er, dass um ihn herum lauter Knochen lagen, und direkt neben seinem Gesicht, zwei vertrocknete, mumifizierte Hände, bittend gefaltet und mit einem schwarzen Lederband zusammengebunden.