Letztes Aufbegehren
Gedankenverloren öffnete sie die Wohnungstür zu ihrem Apartment, schaltete das Licht an und erschrak augenblicklich. So sehr, dass sie ihre Tasche fallen und den Blick wandern ließ: Da lag ihr Ex-Mann auf ihrem Sofa, sein ursprünglich weißes Hemd stach ihr förmlich blutrot entgegen. Das Blut schien von einer frischen Wunde zu kommen, dessen Ursprung vermutlich im Brustbereich lag und von dort aus sich über das ganze Hemd verteilte.
Celia befürchtete das Schlimmste und dachte zuerst, dass er tot war. Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Seine schlammverschmierten
Markenschuhe hatte er anbehalten und seine Hose wiesen
Laubfrosch-grüne Abschürfungen an den Knien auf. Alles deutet darauf hin, dass er in einen Kampf verwickelt worden war. Dann bemerkte sie seine flache Atmung. Er war offenbar tief eingeschlafen, regungslos und mit kaum wahrnehmbaren Atemzügen. Sie ärgerte sich über seine verschlammten Schuhe und konnte sich auch nicht erklären, wie er in ihre Wohnung hinein gekommen war.
Sie zitterte vor Angst. Und gleichzeitig verspürte sie immer noch eine gewisse Zuneigung zu ihm. Trotz alledem, was geschehen war zwischen ihnen.
Als sie ihn schlafend auf ihrem Sofa sah, überkam sie ein Gefühl von Melancholie, Sorge und Angst. Aber auch Wut durchströmte sie.
Die Sorge um ein verwelkendes Leben und ihr Helfersyndrom gewannen jedoch schnell die Oberhand. Sie streifte hastig ihren Mantel und die Schuhe ab, ging zu ihm, öffnete sein Hemd und legte die klaffende Wunde zwischen Schlüsselbein und Brustkorb frei. Ihre zweijährige Erfahrung als Assistenzärztin in der Notaufnahme war ihr jetzt von Nutzen. Es konnte noch nicht viel Zeit vergangen sein, seit dem er hier lag, denn die Wunde war noch frisch und blutete immer noch. Eine Blutspur neben einigen Schlammklumpen zog sich von der Wohnungstür über das Parkett bis zum Sofa hin. Seine ungewöhnlich gekrümte rechte Hand war blutverschmiert. Wahrscheinlich hatte er versucht krampfhaft die Blutung zu stillen und war dabei entkräftet eingeschlafen. Nach näherer Untersuchung schien die Wunde nicht lebensgefährlich zu sein. Aber sie musste gesäubert und genäht werden. Celia holte aus ihrem Notfallkasten Verbandszeug, Desinfizierspray, Nadel und Faden. Da Celia eine Ausbildung als Ärztin hatte, war sie immer für den Notfall gewappnet. Sie wunderte sich, dass sie so
gelassen blieb, obwohl sie ihren Ex als Einbrecher betrachten musste, der in ihre Wohnung eingebrochen war. Und nach all dem, was er ihr angetan hatte, müsste sie auch Angst verspüren, ihn so nah bei sich zu wähnen. Die Routine als Ärztin ließ sie ihre Emotionen verdrängen.
Sie setzte sich neben ihn. In diesem Moment bewegte er sich. Sie flüsterte:
"Tomás, hörst du mich? Was hast du angestellt? Wieso bist du hier bei mir in der Wohnung und nicht zum Notarzt gegangen?“ Sie betrachtete sein Gesicht: Seine Lieder flackerten und öffneten sich nur einen Spalt breit. Er war wieder bei Bewusstsein.
„Ich werde dich verarzten, gleich tut es weh, ich desinfiziere jetzt die Wunde!" sagte sie und sprühte das Desinfektionsmittel, das alkoholhaltig war, auf seine Wunde.
Tomás schrie auf "Argh!" er röchelte kraftlos, "Ich hatte gehofft, dass du mir hilfst und nicht mir den Todesstoß versetzt!"
Celia dachte: `Ja das wünschte ich mir auch, dir den den Todesstoß zu geben´, entgegnete ihm indes:
"Komm, stell dich nicht so an, Tomás! Wer bei mir ungebeten ins Haus einbricht und den Boden versaut, braucht nicht mit einer Wellnessbehandlung zu rechnen." Sie tupfte den mit Desinfektionsmittel getränkten Wattebausch um die Wunde herum.
"Du hast Glück gehabt, der Stich ist nur
mausknietief, nicht so tief, dass es zu einer inneren Verletzung kommen könnte, also mach kein Drama daraus! In was bist du da hineingeraten? Du solltest eigentlich in die Notaufnahme und nicht zu mir!"
Sie merkte, dass Tomás überlegte, was er ihr antworten sollte. Seine Antwort ließ auf sich warten, er stöhnte, als ob er unerträgliche Schmerzen hatte und biss sich auf die Zähne, als ob er lieber die Schmerzen ertragen und ihr nichts sagen wollte.
"Ohne Erklärung kommst du mir hier nicht raus, ich muss die Wunde nähen, das wird noch mal schmerzen, ich hole dir einen Whisky. Hast du dich wieder mit der Drogenmafia eingelassen?"
Als sie ihm das halb-volle Glas guten Single Malt reichte, herrschte sie ihn an "Los jetzt! Setz dich auf und hilf mir, dein Hemd auszuziehen."
Er versuchte sich aufzurichten, fasste dabei mit seiner Hand an ihr Knie und hielt sich kurz daran fest. Ein unangenehmer Schauer durchfuhr Celia. Und bei dem Gedanken, dass er trotz Verletzung versuchen könnte sie anzu
baggern, stieg Übelkeit in ihr hoch.
Fast hätte sie zu einem
Weitsprung angesetzt, um fern von ihm zu sein. Schnell fasste sie sich wieder ,riss ihm umständlich sein Blut-durchtränktes Hemd vom Leib und warf es zur Seite.
"Trinkt das Glas aus, damit du mir hier nicht die ganze Bude zusammen schreist, während ich dich hier zusammenflicke. Und sag mir endlich wie das passiert ist, sonst rufe ich die Polizei! Den Notarzt werde ich sowieso rufen." sagte sie, mit einer etwas schärferen Stimme, während sie die Nadel mit einem Feuerzeug desinfizierte.
Als Celia die Nadel ansetzte, um den ersten Stich zu tätigen, zuckte er zusammen.
“Bitte nicht die Polizei, es ist kompliziert genug, du bist meine einzige Zuflucht! Ich erzähle es dir." Dabei wurde seine Stimme samtweich, nahm einen langen Schluck Whisky und fuhr mühevoll fort."Es war im Park unweit von hier, ich ging spazieren ... Argh!"
Celia hatte begonnen, die Wunde zu vernähen, sie ging dabei sehr behutsam vor. Dennoch, stellte sich ihr Ex an wie ein jämmerliches kleines Männchen. Tomás nahm den letzten Schluck und das Glas glitt ihm aus der Hand, als er wieder das Bewusstsein verlor.
Celia schloss ihre Wundversorgung ab und sackte erschöpft in den ihm gegenüberliegenden Sessel. Sie betrachtete ihn: Seine Haare
klebten schweißnass an seiner Stirn und sie musste ihren Reflex unterbinden, ihm mit ihrer Hand durch sein Haar zu fahren, um seine schönen Locken zu
frisieren.
Ihr Ex war ein Mann mit gewissen Vorzügen: Groß, muskulöse Oberarme, dunkelblondes Haar, optisch sehr ansprechend.
Ihre Gedanken schweiften in die vergangene Zeit ab: Noch heute fühlte sie sich von ihm angezogen. Trotz all dem, was er ihr in ihren 20 Jahren Ehe angetan hatte. Er schlug sie immer wieder ohne Vorwarnung, sie musste seine grundlosen Eifersuchtsausbrüche ertragen. Einmal kam er aus der Küche wutentbrannt herausgestürmt ins Wohnzimmer, wo sie sich heiter und lachend mit seinem besten Freund unterhielt, packte sie an ihren Haaren, zog sie daran hoch und sagte vor seinem Freund: „Du Schlampe, geh jetzt ins Bett, mach meinen Freund nicht an!“ Als Celia etwas erwidern wollte, versetzte er ihr eine schallende Ohrfeige und brüllte: „Halt die Klappe, du Miststück!“
Solche plötzlichen Ausfälle hatte er immer wieder. Jedoch kam er immer am nächsten Morgen an, mit süßer Stimme, umgarnte sie mit seiner anderen liebevollen Seite und bat sie auf den Knien um Verzeihung. Beteuerte, dass er sie über alles liebte und das er ohne sie nicht leben konnte. Bis Celia eines Tages einfach ihren Koffer mit nur dem Notwendigsten packte, ihm einen Zettel auf den Esstisch legte, „Ich verlasse dich!“, und das gemeinsame Haus verließ.
Sie verlangte sofort die Scheidung. Er versuchte sie mit vielen Tricks davon zu überzeugen, zu ihm zurückzukommen. Beteuerte ihr seine Liebe und dass er sich bessern wollte, bot ihr eine gemeinsame Paartherapie an. Sie blieb standhaft, bis er anfing ihr zu drohen, sie verprügeln zu lassen. Schließlich beantragte sie Kontaktverbot, da sie befürchtete, dass er seine Drohungen wahr machte.
Nach einem zähen Scheidungskampf willigte er dann vor einem Jahr in die Scheidung ein.
Draußen hatte es angefangen zu regnen, das Prasseln der Regentropfen an der Fensterscheibe rüttelt sie wieder in die Realität. Tomás war eingeschlafen. Sie lauschte für Minuten seinen gleichmäßigen Atemzügen. Sie dachte an all den Schmerz, den sie ertragen und verdrängt hatte, um all die Jahre zu überstehen und zu überleben.
Augenblicklich wurde ihr übel. Sie durfte nicht wieder auf seinen falschen Charme hereinfallen. Ihr Ex-Mann, der sie brutal misshandelt hatte, war jämmerlich an einer Schnittwunde zusammengebrochen. Irgendwie empfand sie nur Mitleid mit ihm, jedoch keinen Funken Erbarmen.
Ihr schoss ein Zitat ihres Aikidolehrers während des Frauenverteidigungskurses in den Kopf:
„Schmerz ist Illusion, Schmerz ist eine Entscheidung, Schmerz kann man nicht ignorieren,
aber man kann ihn als etwas Fremdes betrachten, sogar als etwas Schönes, das jedoch in großer Entfernung liegt, so wie eine Landschaft am Horizont.“
Sie greift zum Telefon und wählt die 110 an. Ein monotoner Signalton wird durch ein Klacken in der Leitung abgelöst. Ein Durchatmen und ein selbstbewusster Blick- diesmal würde sie den Schmerz nicht wegdrücken, nein.
© Aphroditee 08.02.23