Fastnacktball
faszinieren
Paradoxon
zerrissen
Körperhaltung
Hure
murmeln
enthüllen
Respekt
Ganz schön aufgeregt war sie an diesem Abend. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit war sie allein ausgegangen und dann auch noch gleich auf einen frivolen Ball. Im Grunde hätte sie sich ihre Kostümierung sparen und direkt als Streichholz gehen können, denn was sie alles seit ihrem Eintreffen hier zu sehen bekam, verschlug ihr direkt den Atem. Vielleicht war das Ganze doch eher eine blöde Idee gewesen, ihr kamen Zweifel. Am besten würde sie sich schnell aus dem Staub machen bevor ihr hier noch etwas geschah. Sie hatte keine Ahnung, warum sie ausgerechnet in diesem Moment in Richtung Eingang schaute. Vielleicht hatte ihr eine gütige Norne einen kleinen Tritt gegeben? Wer wusste schon, wie das Schicksal so tickte.
Anscheinend war er gerade erst hereingekommen, denn sein Blick schweifte über die Menge der Tanzenden, schwenkte einmal kurz über die vollbesetzten Barhocker und wieder zurück auf die Tanzfläche. Es schien als suchte er nach jemanden.
Sie stand im Schatten einer Säule und war von seinem Anblick völlig fasziniert. Seine selbstbewusste, Respekt einflößende Körperhaltung sprach Bände über ihn, zusammen mit einer natürlich dominanten Ausstrahlung ergab das eine unwiderstehliche Mischung, die die Schmetterlinge in ihrem Bauch zum Fliegen brachte. Unfähig sich von seinem Anblick zu lösen und mit leicht zitternden Knien verfolgte sie, wie er sich mühelos einen Durchgang in Richtung Tanzfläche bahnte. Der Club war brechend voll und bewundernde Blicke wurden ihm besonders von den Damen zuteil.
Die Anwesenden waren mehr oder minder kostümiert, zeigten getreu dem Motto des Abends Haut und die meisten trugen wie er und sie schwarze Augenmasken. Die Atmosphäre war frivol und ausgelassen aufgeladen. So manche bewegten sich hier so als wäre fast nackt in der Öffentlichkeit und gelebte Lust in allen möglichen Formen am Rande des Dancefloors etwas vollkommen Normales.
Sie fühlte sich nicht unwohl, jedoch verunsichert und vermutlich war die Wahl ihres Kostüms sicherlich dem Motto angemessen, für ihre Person aber des frivolen etwas zu viel. Die Demaskierung später am Abend würde sicher spannend werden. Laut geredet wurde nicht, eher murmelten die Gäste mit verstellten Stimmen, wenn sie denn sprachen. Keiner der Maskierten wollte sich vorab durch seine Stimme vor den anderen enttarnen.
Er fiel zweifelsohne auf, einige der anwesenden Damen bekamen direkt Schnappatmung als er „wie ein Lump am Stecken“ zu tanzen begann. Seine Bewegungen harmonierten perfekt zum Rhythmus der Klänge. Offensichtlich hatte er großen Spaß und genoss die schmachtenden Blicke. Ein Zauberer, nicht nur von seiner Verkleidung her, der die „Puppen“ tanzen ließ – so wie es ihm gefiel. Seine Magie entfaltete sich und er fand sich plötzlich umringt von mehreren freizügig gekleideten Damen, die sich ihm mehr oder weniger offen „für mehr“ in den Separees des Clubs anboten.
Es zerriss sie fast, dieses schamlose Werben mitanzusehen. Sie fragte sich, was ihn eigentlich davon abhielt, seinen Zauberstab auszupacken und sie alle der Reihe nach zu vernaschen? Und warum in aller Welt versteckte sie sich hier im Schatten der Säule? Warum trat sie nicht einfach hinaus ins Licht der Scheinwerfer und zeigte ihnen allen, was in ihr steckte? Sie grübelte abgelenkt vor sich hin und ärgerte sich über ihre verdammte Schüchternheit.
Plötzlich – sie wusste gar nicht wie ihr geschah – packte eine Hand die ihre und zog sie in die Mitte der Tanzfläche. Fast wäre sie dabei über ihre Füße gestolpert. Ein starker Arm fing sie auf und ein seltsam vertrauter Duft nach Ingwer und Erde umfing sie. Sie sah den Mann an und ihr Herz stockte einen Moment – es war der Zauberer, der vor ihr stand. Seine Lippen bewegten sich, doch verstand sie nicht, was er sagte. Die Musik war hier noch lauter als im Rest des Clubs. Mit einer galanten Geste forderte er sie zum Tanz auf. Verwirrt und sehr erfreut nickte sie, doch plötzlich war es still und die Lichter verloschen bis auf eines direkt über ihnen. Die wehmütig klagenden Laute eines Bandoneons erfüllten den Raum, ein Tango Argentino.
Ihr blieb die Luft weg, mit welcher Sicherheit er sie über das Parkett und in die Figuren führte. Es schien als hätten sie nie etwas anderes getan als sich so perfekt in vertikalem Sex miteinander zu wiegen. Mittlerweile hatte sich die Tanzfläche geleert, nur wenige Paare schwebten in Amague und Ochos über sie. Die Vertrautheit, die sie in seinen Armen spürte, wunderte sie. Ihn scheinbar nicht, was sie noch mehr verwirrte. Eine alte Erinnerung aus den Tiefen ihres Gedächtnisses drängte an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Bevor sie wusste, was geschah, standen sie in leidenschaftlicher Umarmung mitten unter dem Spot und küssten sich. Die Menge der Zuschauenden applaudierte. Der DJ legte nun härteres auf.
Sie folgte dem Zauberer, noch versunken, an die Türe zu den Separees. Sie lief nicht, sie schwebte, und wollte etwas sagen. Er lächelte sie an und verschloss ihre Lippen mit seinem Finger. Seine Hände strichen über ihr Haar und sie schmiegte sich eng an ihn. Es war nun Zeit zu enthüllen, was beide schon längst fühlten.
Langsam nahmen beide ihre Augenmasken ab. Sie hatte es geahnt und nun auch, warum er – wie geschehen – so auf sie wirkte. Paul stand vor. Ihre Jugendliebe aus dem Ferienkamp, in dem sie beide als Betreuer einen verzauberten Sommer lang, gearbeitet und sich geliebt hatten. So lange war das schon her und doch fühlte es sich an als hätten sie sich erst gestern unter Tränen verabschiedet.
„Wie…?“ Sie kam nicht weiter, die Intensität seiner Umarmung fegte die Tatsache, dass sie halb nackt, nur mit einer Korsage, Strapsen und einem hüftlangen Rotkäppchen-Umhang vor ihm stand, einfach hinweg.
„Möchtest du?“ Fragte er mit einem Zwinkern, so wie früher, und er wusste, dass sie wusste, dass es eine rhetorische Frage war.
Natürlich wollte sie, sie würde heute Nacht das Paradoxon lustvoll ad absurdum führen, und beweisen, dass es möglich war, sowohl eine Heilige als auch eine Hure gleichzeitig zu sein.