Life is not a contract
Was soll ich sagen? Mein Leben änderte sich in einer Nacht. Im Grunde genommen innerhalb von zehn Minuten. Natürlich bin ich physisch dieselbe Person, aber es gibt ein Vorher und ein Nachher.
Mein Leben verlief in geordneten Bahnen. Sofern man das Leben eines Orchestermusikers geordnet nennen kann. Ich spielte Bratsche im Orchester des Opernhauses. Im Orchester der Oper sind die Musiker nicht die Stars. Auch der Dirigent verschwindet im Orchestergraben. Richard Wagner forderte sogar, dass Opernhäuser so gebaut werden, dass man das Orchester vom Publikum aus überhaupt nicht sieht. Die Diven stehen oben auf der Bühne. Sie sind mir egal. Ich muss sie nicht sehen, und achte nur auf meinen Einsatz. Ich liebe mein Instrument. Und das war alles, was ich liebte, die Töne, die ich ihm entlocke.
Frauen? Frauen. Wer macht das schon mit? Fast jeden Abend spielen. Auch an Wochenenden. Und üben, üben, üben. Das hält keine Beziehung aus. Die Kunst ist meine Braut. Und eigentlich wollte ich nie etwas anderes. Als Kind war die Verlockung groß, immer auf Mamas Klavier herumzuklimpern, bis sie es nicht mehr aushielt und mich zu einem Klavierlehrer brachte, damit ich es richtig lernte. Ich war begeistert. Ich kümmerte mich nicht darum, was andere Jugendliche so machten. Ich galt als ein wenig seltsam. Spielte nie Fußball. Legte Wert auf Kleidung wie sie Pianisten im Konzert trugen. Fliege, weißes Hemd. Einen passenden Frack hatte ich leider nicht, den hätte ich auch den ganzen Tag getragen. Die anderen liefen in Jeans und Parkas herum. Sagten der bürgelichen Welt mit wirren Haaren den Kampf an und hörten etwas, was ich nicht als Musik empfand.
Die Schule schaffte ich so mit Ach und Krach. Mit dem Abitur, meinte mein Vater, da kannste nur entweder Schornsteinfeger oder Künstler werden. Ich entschied mich für Künstler. Auf dem Konservatorium brauchte man ein zweites Instrument. Das war für mich die Bratsche. Das war keine schlechte Entscheidung. Klaviervirtuose oder erster Geiger will jeder werden. Bratsche steht da eher in der zweiten Reihe. Ewiger Orchestermusiker, das sind nicht die jugendlichen Starträume, aber mir war es genug, und ich mochte den gegen die Geige tieferen Klang. Ich fand damit leicht einen Job und war zufrieden.
Dachte ich. Aber im Grunde war mein Leben ein Stillstand. Eingekeilt im Orchester. Im klassischen Repertoire. Das wurde mir aber erst nach Jahren und an einem Abend nach einer Otello-Aufführung bewußt. Ich stand mit meinem Instrumentenkoffer an der Straßenbahnhaltestelle, als mich eine junge Frau ansprach.
"Haben Sie da gerade mitgespielt?"
"Ja, waren Sie in der Oper?"
Sie nickte. Ich fragte, wie es ihr gefallen hatte.
"So lala"
Das schien mir etwas despektierlich Verdi mit "so lala" zu charakerisieren.
Sie meinte:" Verzeihen sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Es war nicht schlecht, aber irgendwie nur routiniert, und die Inszenierung, naja, da hätte man bei den Thema auhc mehr draus machen können, alles ein bißchen lahm, trotz Verdi."
Ich musste ihr recht geben. Es war die 31. Repertoireaufführung, da ist alles nicht mehr so frisch, da lässt die Spannung doch nach.
Sie meinte macht nichts, sie gehe jetzt noch in ein anderes Konzert. Ich wurde neugierig. Sie kam mir nett vor. Sie trug ein sehr kurzes, grünes, in der Farbe changierendes Kunstseidendenkleid und im Haar eine Kunststoffblume, sollte wohl eine Nelke sein. Bißchen ungewöhnlich für Obernbesucherinnen. Irgendwie gefiel mir das. Zu Hause erwartete mich niemand, also sagte ich, dass ich mitkomme. Sie lächelte etwas rätselhaft, ich war gespannt was mich erwartete.
Wir fuhren drei Stationen mit der Straßenbahn, gingen dort um ein paar Hausecken und sie führte mich in den Hinterhof einer Kneipe. Dort war ein Anbau, mit einem Saal. Im Vorraum hörten wir bereits die Musik wummern. Wir zahlten bei einer Frau, die an einem Bistrotisch saß und die uns einen Stempel auf den Handrücken drückte.
Die Türe zum Saal war schwer zu öffnen und innen mit Papierwaben wie in manchen Aufnahmestudios gedämmt. Nicht ohne Grund. Die Musik traf mich wie ein Vorschlaghammer. Im Orchestergraben war es auch laut. Vor allem wenn man das Pech hatte vor dem Blech zu sitzen. Aber das hier war jenseits von allem, was ich bisher gehört hatte. Zumal der Raum nicht so groß war. Vorne war eine niedrige Bühne, auf der die Band agierte. Ich sah erst nur die Köpfe. Die junge Frau nahm mich bei der Hand und drängelte sich mit mir ganz nach vorne bis zum Bühnenrand.
Die Musik war verstörend, eine Art Betonblock aus Lärm. Bestenfalls konnte man einen einzigen Akkord der gleichsam im Raum stand, heraushören. Und von der Sängerin konnte man auch nicht sagen, dass sie sang. Sie raunte mit einer rauchigen Altstimme Unverständliches ins Mikrophon.
In der Oper versteht man auch nicht immer, was die Sänger singen, aber man bemüht sich doch um klare Artikulation. Aber im Lauf der Zeit hörte ich aus dem Lärm eine leichte Bewegung heraus, Modulationen des Klangs, eine neue Kadenz auf der Gitarre, die von den Keybords aufgenommen wurde. Nur die Sängerin, trug unbeeindruckt davon, was der Rest der Band trieb, ihre Worte in einer Art Rezitativ vor. Aber diese Inkohärenz erzeugte eine Spannung, die in mir eine Art Sog zu entwickeln begann. Die Lautstärke trug dazu bei. Ich hatte das Gefühl, den Klang gar nicht mehr über die Ohren aufzunehmen, sondern mit dem ganzen Körper. Ich begann, ohne es zu wollen oder darüber nachzudenken, in dem Achtelschlag des Schlagzeugs mitzuwippen, der durch das Tambourin, das die Sängerin während der Instrumentalphasen des Stückes schlug, synkopiert wurde. Es war wie ein Schock, als die Band ohne Vorwarnung, ohne Akkordauflösung oder Schlussakkord mit einem Schlag aufhörte. Nur das Tambourin schepperte leicht nach.
Das Publikum, nach einer Zehntelsekunde absoluter Stile, pfiff, johlte, klatschte. Irgendjemand hinter mir sagt: "Cool".
Die Sängerin beschattete mit der Hand ihre Augen um gegen die blendenden Spots ins Publikum zu blicken. Ich Blick blieb an mir hängen. Sie fragte von der Bühne herab: "Are you gonna kill us?
Ich war irritiert, schaute meine Begleiterin an, die zuckte mit den Achseln. Ich fragte zurück: "Why should I ?"
Sie deutete auf meinen Bratschenkoffer:"Cause killers always hide their guns in such a bag".
Ich musste lachen. Meine Bratsche, eine "gun" - alles andere als das: " Oh, no, it`s just a viola! Doesn`t do any harm!"
Jetzt schaltete sich einer der Gitarristen ein: "Musican?"
"Yes!"
"Come on" - und er winkte mit der Hand, dass ich auf die Bühne kommen solle. Ich schüttelte den Kopf. Er wiederholte sein "Come on" und meine Begleiterin stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite: "Los, mach es."
Ich weiß nicht, was mich jetzt ritt, vielleicht wollte ich sie beeindrucken, vielleicht reizte mich die Herausforderung. Jedenfalls kletterte ich auf die Bühne, öffnete den Koffer und nahm meine Bratsche heraus. Sie kannte sonst nur das gedämpfte Licht im Orchestergraben oder Konzertsaal, hier glänzte sie im grellen Spot, ich bereute für einen Moment meine Tat und hatte Angst, sie könne in der schwitzigen Athmosphäre dieses Raumes Schaden nehmen. Aber ich war auf den Rücken des Tigers gesprungen, da konnte ich nicht mehr zurück. Der Gitarist fragte mich nach meinem Namen: "Severin".
"Hey, Severin!". Die Sängerin schob mir ein freies Mikrophon hin und stellte es auf die Höhe meiner Bratsche ein und sagte: "Play something". Ich strich mit dem Bogen einmal über die Seiten, der Tontechniker, hatte den Regler aufgezogen und der Ton erfüllte den Raum. Es erfüllte mich mit Freude, mir mit meinem, im Vergleich zu den schrilleren Geigen oder gar den Blasinstrumenten, eher leisen Instrument, Gehör zu verschaffen.
"Our long-time friend Severin is gonna play his violin for you" sprach der Gitarrist in sein Mikro und wies auf mich, einige im Publikum klatschten. Zu mir sagte er leise: "A minor".
Jetzt stand ich da. Ok, A-Moll, das hatte ich verstanden. Aber was damit anfangen. Ich hatte noch nie so improvisiert, Jazz oder Rock war mir fremdgeblieben. Der Schlagzeuger schlug schon seine Stöcke zusammen um den Takt vorzugeben, die Band setzte tatsächlich auch mit dem A-Moll-Akkord ein. Ich spielte erst mal einfach nur den Grundton und wartete. Das Stück war melodiöser als das vorhergehende. Die Sängerin hatte das Tambourin mit einer akustischen Gitarre vertauscht und ich versuchte herauszuhören, was sie spielte. Es kam mir vor, wie ein Schiff, das auf Wellen schaukelte, sich aufschwang zum E, herabglitt zur Subdominante und dann wieder zur Tonika. Ich folgte, und nach und nach verstand ich die Struktur, wurde sicherer und die Töne flogen mir zu. Der Gitarrist, als er merkte, dass ich mitkam, auch die Betonungen mit dem Beat koordinierte, nickte mir aufmunternd zu. Die Sängerin sang zwei Strophen, dann kam ein Gitarrensolo, eine weitere Strophe, und dann wandte sich der Gitarrist mir zu: "Your turn".
Ich bekam einen Schweißausbruch, normalerweise kenne ich kein Lampenfieber, verschwinde ja sozusagen immer im Orchester, aber hier stehe ich voll im Licht, und ohne Notenblatt. Das einzige Geländer war das das Bumm-chack von Basstrommel und Snare und, ja, A-Moll. Was tun? Ich versuchte es mit einer kleinen Reihe der Pentatonik, da kann man nichts falsch machen. Variierte, drehte, Krebs, Spiegelung, das Keybord nahm die Melodie auf, spielte ein zweite Stimme dazu. Ich balancierte auf dem Drahtseil der Töne, bis der Gitarrist kurz aussetzte, ein Zeichen zum Ende gab. Ich spielte die Skala nach unten, der Schlagzeuger machte einen Wirbel und die Band, die die Lautstärke zurückgenommen hatte, stieg wieder voll ein. Die Sängerin schrie ins Mikrophon. "Severin, applause for Severin!" Da Publikum klatsche und tobte, der Schlagzeuger steigerte sich in ein Schlusssolo und die Band ließ die Instrumente ausklingen.
Ich war geflasht. So hatte ich Musik noch nie erlebt. Bei einem Streichquartett, bei dem ich eine Zeitlang mitgespielt hatte, gab es natürlich mehr Interaktion unter den Musikern, aber immer im Rahmen des Notenblattes, und man war auch näher am Publikum. Aber trotzdem, das hier war etwas anderes. Eine Art petit mort, ein Rausch.
Ich packte mein Instrument ein, der Gitarrist sagte noch: "Thanks a lot." Und: "Just stay after the show, lets talk". Ich kletterte von der Bühne. Meine Begleiterin sagte nur: "Wow" und einige der Umstehenden klopften mir auf die Schulter oder hoben den Daumen. Ich überlegte nicht weiter, die Band setzte ein und ich gab mich der Musik hin.
Nach der Zugabe verschwand die Band erst nach irgendwo hinten, dann tauchten die Mitglieder nach und nach am Merch-Stand auf, signierten CDs und t-shirts. Als der erste Ansturm vorbei war, kamen der Gitarrist und die Sängerin auf mich zu: "You are great, wanna repeat this?" Ich erklärte ihnen, dass ich einen langfristigen Vertrag mit dem Orchester der Oper hätte.
Die Sängerin fragte nur: "Do you like your job?"
Ich antwortete:"Somtimes"
Der Gitarrist schnappte sich einen Rechnungblock und einen Stift von der Bar, schrieb seine Handynummer und seine Emailadresse auf, gab mir den Zettel: "Somtimes will never be enough, so give a dam fuck on the opera. Life is not a contract. In a fortnight we gonna start to record some new staff, we´d glad in case you join us."
Meine Begleiterin, die sich unter die noch Anwesenden gemischt hatte, offenbar kannte sie hier einige Leute, tauchte wieder auf: "Na auf dem Weg zum Rockstar?" Ich sagte nur: " For sure, it`s a long way - down or up, who knows…?" Sie grinste: "Damit du dir nicht gleich am Anfang die Füße wund läufst, die letzte Tram ist durch, ich wohne hier um die Ecke."
Nun, es war erstmal nicht so wie ihr jetzt denkt, ich habe brav auf dem Sofa geschlafen. Aber die 32. Repertoireaufführung von Otello fand ohne mich statt. Ich sitze hier in einer zu einem Studio umgebauten Industriehalle in Portland, Oregon, und wir nehmen auf. Und Tina, die Begleiterin jener Nacht, die eigentlich Schuld an allem war, ist mitgekommen.