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Humphrey, der Große
(1) Humphrey von der Tanke
Humphrey stand mutterseelenallein in der Aral, am Fenster des Nachtschalters, und ließ seinen Kopf davonziehen, die Welt verleugnend kurzzureisen.
Es war gegen Zwei und der faule Mond, der gegen Zehn, bei Schichtbeginn, noch so hoch oben arrogant daherleuchtete, wie wenn Gott seinen stärksten Strahler eingeschaltet hatte, war im Begriff sich hinter dem Hügel zu verstecken; wohl um sich insgeheim wieder hinzulegen.
Die Kunden, die nächtens hereinschneiten - und Humphrey arbeitete stets und ausschließlich in der Nacht - waren junge Leute, die aufm Weg ins Städtle oder zurück, Alkohol oder Zigaretten oder Papers kauften. Außer sie feierten irgendwo da draußen in der Nacht, auf Spielplätzen oder auf Treppenstufen sitzend. In dem Fall kauften sie ebenso Alkohol und Zigaretten und Papers; nur viel, viel mehr davon und noch krasse Massen kranker Knabbereien dazu. Nur Sonnenblumenkerne kauften sie nicht, die brachten sie selbst mit.
Außer der Stadtteiljugend kamen, mitten der Nacht, auch die Mädels vom Straßenstrich hereinspaziert, welche im Wesentlichen dieselben Waren nachfragten. Der Unterschied lag darin, dass die Mädels vom Strich einen frischgemachten, warmen Kaffee, gekühlten Energydrinks vorzogen und keinen Knabberkram kauften, dafür aber nachgewürzte Mikrowellenmahlzeiten im Stehen verspeisten.
Die Gedanken Humphreys hatten anfangs gar nicht gehorchen wollen, als er sich an das Fenster gestellt und ihnen bedeutet hatte frohmütig fortzufliegen. Sie waren fluglahm liegengeblieben; zu schwer das Gewicht der Last lästernder Erinnerungen.
Zögerlich und zaudernd, gedemütigt und ihrer selbst nicht sicher, waren Humphreys Gedanken anfangs eine lange Weile auf den Zapfsäulen planlos liegengeblieben, folgten dann aber einem vorbeifahrenden alten, knallroten Renault 5 die Straße hoch, am Strich vorbei, bis er nicht mehr zu sehen war. Dieser 5er brachte ein wohligwarmes Erinnerungsdomino in Gang und so machten die Gedanken, zu guter Letzt, doch melancholisch-fröhlichen Urlaub in der Sekunda, wo sie sich auch befanden, als Humphreys Augen den leicht humpelnden Gang von Jess erfassten und die Gedanken heimriefen.
Jessy - zumindest hatte sie sich selbst so vorgestellt - war alleinerziehend und wohnte in dem Stadtteil, in dem die Tankstelle lag. Eigentlich humpelte sie nicht wirklich. Sie setzte, infolge eines schlecht verheilten Bänderriss, ihren linken Fuß zögerlich auf und zog ihn leicht nach.
Humphrey wusste dies alles und manches mehr. Humphrey kannte die Geschichten all dieser Mädels.
Jede von ihnen hatte schon den einen oder anderen Moment, in dem sie, nachdem sie das Restgeld in die Hand geschüttet bekommen hatte, nicht zur Tür rausging, sondern stattdessen stehen blieb und damit begann die Zwiebel zu schälen. Humphrey stand dann da wie ein Barkeeper und schenkte ihnen allen sein Ohr, nickte und grummte an den richtigen Stellen und verstand. Er verstand den Gram und er verstand den Kummer. Mochten die Mädels europäisch, afrikanisch, oder außerirdisch sein. Das änderte nichts. Es waren die gleichen Geschichten und Humphrey kannte und verstand sie.
Humphrey hatte so Einiges gesehen im Leben und wusste, dass das ebengenannte Leben nicht gerade verläuft. Es ist verbogen, verschmutzt und es ist krumm. Aber am Ende doch irgendwie parallel. Diese Weisheit gab er seinen Freunden mit auf den Weg.
Unser Humphrey war nicht dumm, Geringverdiener hin oder her.
Und weil er nicht dumm war, verriet er, wie die Mädels, niemandem seinen wahren Namen. Humphrey, gab er stets an, wenn man ihn fragte. Humphrey war aber sein wahrer Spitzname, der aus dem wahren Familiennamen 'Burkhardt' schon in der Sexta gebildet worden und haften geblieben war. Burkhardt, Klaus. Aber wie gesagt, so nannte ihn keiner. Wir nannten ihn alle nur Humphrey. Und er nannte mich Trotzki.
"Hi, Humphrey, wie isses heute?", rief Jess beim hereinstöckeln. Sie hatte wieder einmal ihre Brille nicht an und rief daher ihre Begrüßung in die völlig falsche Richtung zum Kaffeeautomaten. Jess nannte die Brille ihre Schutzbrille, deren Schutz dann wirkte, wenn Jess sie nicht trug.
Humphrey schmunzelte und antwortete vom Nachtschalterfenster mit seiner rauchigtiefen Baritonstimme "Grüß Dich Jess, was macht die Kunst...?"
"...also heute hatte ich einen..."
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