Küssen verboten.!?
„Scho fa“, nuschelte Bända mit vollem Mund, meinte damit aber eigentlich: „Schon klar“ und verschluckte sich dabei fast an seiner eigenen Rührung ob der Dinge, die in letzter Zeit auf ihn herniedergeprasselt waren, ihn überschwemmt und schließlich mit sich fortgerissen hatten, so dass er am Ende übersäht gewesen war von den Küssen seiner Musen, denen er allerdings nicht nachgeben oder gar nachgehen konnte, weil sich sein Kopf nur allzu oft bleiern auf der Tischplatte abgelegt hatte, um im Sekundenschlaf zu verharren.
„Ha!“, machte seine Schlawine. Sie verstand nämlich nicht nur Bahnhof ob dieser Situation, auch wenn sie sich ein wenig überfahren fühlte. Hatte sie doch versäumt, es Bändas Fellies gleich zu tun, und sich am Katzengras gütlich zu laben, bevor sein Leben sie mal wieder einholte und ihr nicht erklärte, warum der Bända glaubte, die Griffschriften seiner Harmonien im Leben nicht zu verstehen und seine Laute sich für ihn und vielleicht auch für andere misstönend anhören mussten, wenn er versuchte, das Harmonium zu spielen.
Bända polierte gerade den Schädel seines geerbten Mündels, dass ihm der Oheim vom Ölberg zu Braunschwätzingen vor Jahren vermacht hatte - die Statue vom Schofar-Spieler, die seine Familie seit er denken konnte in Vormundschaft hegte und pflegte - als ein Grünschnabel vom Fürsorgeamt alle Namen der Klingelanlage des Wohnhauses, in dem Bända anonym lebte, abarbeitete.
Er erkundigte sich nach eben jenem Mündel und seinem Vormund. Denn laut seiner Auskunft über die Sprechanlage hätten sie sich schon vor Jahren bei der Behörde gemeldet haben sollen.
Bända schluckte. Er hatte einen Kloß im Hals, als er sich und seinen Schützling mit verstellter Stimme an der Gegensprechanlage verleugnete. Denn er hatte keine Möge darauf, dass irgendwer seine ganz persönliche Läuterung vor dem jüngsten Tag seiner Daseinsberechtigung schmälern würde oder gar verhindern.
Schlawine hingegen verdrehte die Augen. Ihr war nach Freudensprüngen zumute, und sie wollte jeden Kuss von Bändas Musen ausschneiden und sich ins Poesiealbum kleben, bevor Bända selbst einschreiten und es ihr und sich selbst verbieten würde. Denn diese Art von Küssen kosteten ihn Zeit und Geld, aber auch Nerven. Doch von alledem hatte er im Moment nur wenig zur Verfügung. Das glaubte er jedenfalls
Schnell raffte Schlawine ihr Kleid am Saum zusammen, um damit den Blütenduft des nahen Frühlings einzufangen und ihrem überarbeiteten Bända zum Frühstück zu servieren. Denn Nacht für Nacht schlug sich dieser seine Kissen um die Ohren, um schlaflos im Script-Ohr-ium seines Java-Gottes zu lernen, wie er am besten das Programm seines Lebens um- beziehungsweise neu schreiben könne, damit er seine Resilienz in den gewissen Krisenzeiten ziegelrot anmalen könne. Denn die Lippen seiner Liebsten waren auch oft mit der Farbe seines Herzblutes bemalt.
So schwänzte Bända nun doch den Rattenschwanz seiner täglichen Verpflichtungen und versuchte sich im Schoß von Morpheus zu regenerieren. Das gefiel seiner Schlawine sehr. Nun hatte sie genug Zeit, seine derzeitig gefühlte Welt voller Stress und Erschöpfung von einem felsenklein auf ein erträgliches erbsengroß schrumpfen zu lassen. Auch um ihm seine Vorhaltungen auszureden, die er sich machte, weil ihm neulich mitten in der Nacht beim Kochen die Nudeln in seinem Lieblingstopf angebrannt waren, so dass er diesen nach Jahrzehnten von abenteuerlichen Kochaktionen würde nun endgültig zu Grabe tragen müssen.
Schlawine stand in Bändas Küche und hielt ein Messer in der Hand. Sie überlegte, wie sie ihn dazu bewegen würde, dass auch das über zwanzig Jahre alte Schneidebrett aus Holz ein zeitliches Ende finden könnte. Denn die Maserung des Holzes auf der Schneidefläche war längst einem zerfurchten Grau gewichen, dass im nassen Zustand ganz sicher einen hervorragenden Nährboden für Bakterien abgab und eher selten wirklich trocken war. Ähnlich sah sie das mit dem einzigen Holzkochlöffel im Hause Bändas.
Er hingegen fand das nicht komisch, denn darüber zu witzeln lag ihm fern. Er fühlte eher eine altbekannte Melancholie in seinem Herzen, wenn er sich ob der aufpoppenden Erinnerungen an früher, der längst ihm abgewandten Gesichter gewahr wurde. Mal waren sie es, die von ihm gegangen worden sind oder mal er, der von ihnen rausgekegelt worden war oder aber das Leben im Allgemeinen hat sie im Sturm auseinanderdriften lassen. Und er fragte sich, warum keiner von Damals mehr hatte etwas von sich hören lassen, obwohl er früher öfters seine kreativen Rauchzeichen in ihrer Nähe hinterlassen hatte.
Er fühlte sich so, als ob er nun die letzte Rate seines endgültigen Abschiedes vergangener Jugendjahre bezahlen würde, um dann endgültig ein mittelgroßes Blätterdach aus Laubbäumen darüber wachsen zu lassen. Er fühlte sich in einem neuen Lebensabschnitt angekommen, auch wenn ihm der derzeitige Sport der schlaflosen Nächte sehr zusetze, so sah er sich doch immer weiter von Ah nach Be bis hin zum Zett reisen und wiederum zurück. Denn er war gern in geistiger Bewegung und lernte sich stets und ständig neu kennen, nur um nicht irgendwann im Inneren zu vereisen oder gar während einer Rast zu rosten, weil das Salz seiner Tränendrüsen die Makulatur seines Ists immer wieder angriff.
Bända war kein Prinz mit Märchenkrone beziehungsweise kein Froschkönig, den man nach einem bierseligen, feuchten Kuss hätte an die Wand klatschen können, damit er eben jener Prinz hätte werden sollen, und er hielt das auch nicht für erstrebenswert. Aber er fühlte sich oft als Wetterfrosch, dem sein Einmachglas und die unbequeme Leiter darin schon lange überdrüssig gewesen waren und die Schlawine in ihm wusste das nur allzu gut.
Ergo war es nicht verwunderlich, dass sich Bända in den letzten Etappen seiner Verabschiedungen übte und das Fortschreiten seines Neubeginns sich anbahnte. Schon während der ganzen letzten Monate. Nur wurde es ihm erst dieser Tage wirklich spürbar bewusst.
© CRSK, Le, 04/2023
Die erlesenen Reizwörter zur Geschichte, dieses Mal 3 x 8:
- • Katzengras
- • Polieren
- • Grünschnabel
- • Freudensprung
- • Ausschneiden
- • Schnell
- • Trocken
- • vereisen
- • Frühling
- • Resilienz
- • Regenerieren
- • Griffschrift
- • Laute
- • Erde
- • Sport
- • angekommen
- • Fürsorgeamt
- • Mittelgroß
- • Blütenduft
- • Schwänzen
- • Schofar
- • Ziegelrot
- • Gefallen
- • Kuss
Vertonung: