Törtchen, Meeresbrise, Wehmut, Illusion, vibrieren, zerbrechlich, blass, schweben
Alfama (Spaziergang durch Lissabon IV)
Bevor ich in die verwinkelten Gassen des Stadtteils von Lissabon Alfama eintauche, genieße ich den beeindruckenden Ausblick vom "Miradouro da Graça" über Lissabon. Auf einem der 7 Hügel der Stadt thront der "Castelo de São Jorge" über die Altstadt “Baixa". Auf dem gegenüberliegenden Hügel schält sich die pittoreske Silhouette des Skeletts des Klosters do Carmo, welches zum Gedenken an das Erdbeben von 1755 stehen gelassen wurde, aus dem sonst so harmonischen Stadtteil "Bairro Alto" heraus. Mein Blick schweift über die Dachlandschaft bis zum Tejo, der sich am Fuß der Hügel Lissabons anschmiegt wie ein Liebhaber an seine Geliebte.
Ich löse mich von diesem berauschenden Anblick und laufe ein paar Schritte zum angrenzenden "Largo da Graça". Es ist Morgens und es herrscht geschäftiges Treiben auf dem Platz. Taxis, Tuk Tuk, Busse und die für das Stadtbild Lissabon bekannte Trambahn 28 "Elétrico 28" treffen sich hier, um Menschen zu ihrem Zielort zu befördern. Mein Ziel ist heute ein Streifzug durch den Stadtteil Alfama. Dazu steige ich in die nostalgische Tram 28, die noch mit original Holzbänken ausgestattet ist. Glücklicherweise ist sie heute noch nicht so voll. Könnte am Wetter liegen. Am Himmel ziehen graue Wolken auf, was für den Mai eher ungewöhnlich ist. Ich ergattere einen beliebten Sitzplatz am Fenster. Die 28 fährt von hier aus direkt ins Herz der Alfama und schlängelt sich dort durch enge Gassen. An manchen Stellen passt nur die Straßenbahn zwischen den Häusern, selbst die Fußgänger müssen weichen, um nicht mit der Straßenbahn zu kollidieren. Wir fahren vorbei an Wohnhäusern mit französischen Fenstern, deren Geländer mit bunten Blumen in Töpfen behangen sind.
An einer engen Stelle hält die Straßenbahn an. Die Bahnführerin steigt mit einem großen Schlüssel in der Hand aus, um die Gleise zu stellen.
Wir warten geduldig in der Bahn. Mein Blick schweift über die Fahrgäste. Direkt vor mir sitzt eine pralle Afrikanerin, die ganz ungeniert ihr Baby an ihrer entblößten Brust stillt. Dabei summt sie ein Wiegenlied. Ein idyllisches Bild inmitten einer voll besetzten Straßenbahn. Nach einiger Zeit des Wartens wird es unruhig in der Tram. Die Insassen drängen nach vorne, um zu schauen, was draußen passiert. Im Gegenverkehr haben sich bereits zwei Straßenbahnen aufgereiht, die auf die Weiterfahrt warten. Die drei Schaffner stehen am Stellgleis und beratschlagen in aller Ruhe, wie sie das Problem der klemmenden Gleise lösen können. Ein Insasse verlangt das Öffnen der Türen. Daraufhin verlassen die meisten von uns die Straßenbahn, so auch ich.
Ich laviere mich an der engen Stelle zwischen Bahn und Häuserfassade hindurch und biege links ab in eine schmale Gasse, gehe dort einige Stufen hinab und schon befinde ich mich in den verschlungenen Gassen der Alfama. An den Fassaden reihen sich gefüllte Wäscheleinen und Blumentöpfe an Balkonen aneinander. Während mein Schritt langsamer und bedächtiger wird, eilt
ein Mann im Anzug geschäftig an mir vorbei. Detailverliebt betrachte ich die Häuserfassaden, die sich in pastellfarbenen Tönen und mit Azulejos bestückt vom Grau des Himmels abheben. An der nächsten Kreuzung biege ich in eine noch kleinere und verwinkelte Gasse und erreiche einen Platz, auf dem sich zwei Katzen tummeln. Bunte Wäsche hängt an den Leinen, die zwischen den gegenüberliegenden Häuserfronten gespannt sind. Es ist so still als ob ich mich auf einem Dorfplatz befinde und nicht inmitten einer Großstadt mit knapp drei Millionen Einwohnern. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Aus einem Fenster schaut ein altes Weib heraus und grüßt mich freundlich mit einem: "Bom dia!"
Ein kleines Mädchen fährt mit ihrem Dreirad umher. Erinnerungen an meine Kindertage, ein wenig Sentimentalität erfasst mich. Und treiben mich weiter durch die verwinkelten Gassen.
Einige Häuser und Stufen weiter komme ich an einen kleinen Platz, an dem eine Frau gerade ihre Wäsche an die Leine hängt und dabei ein Lied singt. Ich bleibe stehen, lausche ihrer wohltönenden Stimme und erkenne einen mir bekannten Fado "Amar".
"Eu quero amar perdidamente! Amar só por amar …"
(Ich will lieben, mich in der Liebe verlieren! Lieben einfach nur der Liebe wegen …")
Augenblicklich erfasst mich Wehmut und nimmt meine Gedanken mit zu einem Ort der Sehnsucht. Diese Wehmut schwingt in vielen Fados mit. Auf Portugiesisch auch "Saudade" genannt. Das ist ein Stück portugiesische Seele, eine Mischung aus Wehmut, Sehnsucht, Liebe und sowohl Heim- als auch Fernweh. Der Fado vermittelt ein verbindendes Lebensgefühl der Portugiesen. Das Lied erinnert mich an meinen Liebsten, welchen ich hoffe, nach einem Jahr bald wieder zu treffen. Das Leben und die Liebe treibt manchmal ein seltsames Spiel mit uns und setzt uns immer wieder auf die Geduldsprobe. Passend zu diesem wehmütigen Gefühl breiten sich dunkle Wolken über mir aus und tauchen alles in ein Grau. Ein Grau, welches nur durch das Leuchten der weißen Wäsche an den Leinen durchbrochen wird Als die Frau ihren Gesang beendet, streiche ich mir eine Träne weg und klatsche Beifall. Aus einem anderen Fenster klingen Beifallsrufe. In der Geburtsstadt des Fado lauscht man gerne diesem Gesang.
Ein paar Sonnenstrahlen durchbrechen allmählich die Wolkendecke. Langsam erwärmt sich der Tag, es ist Mittagszeit und ich verspüre Durst. Durst nach Wasser aber auch nach dem puren leidenschaftlichen Leben. Auf meinem Weg durch die Gassen versuche ich jetzt wieder Richtung Hauptstraße zu gelangen. Parallel zur Tram 28 laufe ich weiter bis sich der Raum zu einem großen Platz mit einer Aussichtsplattform öffnet, auf der sich der Blick Richtung Tejo und über die Altstadt Alfama entfaltet. Ein paar Meter weiter befindet sich der romantische Aussichtspunkt "Miradouro de Santa Luzia" dieser mit seinen Blumen berankten Laubengang und den "Azulejos" geschmückt. Hier drängen sich viele Menschen an die Balustrade. Das verträgt sich mit meiner momentanen Stimmung nicht und ich laufe weiter die Straße hinunter bis zum Platz der Kathedrale von Lissabon "Sé de Lisboa", die das große Erdbeben von 1755, wie durch ein Wunder, fast vollständig überstand. Wunder sind in Portugal keine Illusion, sie existieren neben Marienerscheinungen, Fußballfieber und die Liebe zur Fadomusik.
Vor der Kathedrale schlängelt sich die Tram 28 vorbei und neben einem wunderschönen, voller lila Blüten behangenem Baum steht ein grellgelber Kiosk der zu Kaffee und Kuchen einlädt. In Lissabon gibt es viele solcher Kioske, welche meist als Café genutzt werden. Für Portugiesen gibt es immer Zeit für einen Kaffee und einen "Pastel de Nata", welches in Belém, einem Vorort von Lissabon, erfunden wurde. Im Schatten des großen Baumes gönne ich mir eine Kaffeepause. Mit dem Blick auf die Kathedrale beiße ich genüsslich in das krosse, noch warme Blätterteigtörtchen mit herrlich cremiger Füllung hinein.
Dann laufe ich entspannt weiter parallel zu den Gleisen der Tram. bis ich unten den alten Stadtteil "Baixa" erreiche . In dem im Schachbrettmuster aufgeteilter Stadtteil, welcher nach dem alles zerstörenden Erdbeben 1755 neu angelegt wurde, vibriert der Berufsverkehr. Zur linken Seite öffnet sich die Straße zu einem sehr großen Platz "Praça do Comércio" und zum Tejo hin. Dieser Platz wird auch das Tor nach Lissabon genannt, da er früher an den Hafen grenzte.
Auf dem Platz spürt man deutlich die frische Meeresbrise und je mehr ich mich dem Fluss nähere, desto tiefer werden meine Atemzüge, um die salzige Meeresluft einzuatmen und ein bisschen die Sehnsucht nach dem Meer zu stillen. Möwen schweben durch die Luft, spielen mit dem Wind, fangen die goldgelben Sonnenstrahlen ein. Mein Blick streift über den Silber glitzernden Tejo bis hinaus auf das blass schimmernde Meer am Horizont. Ich setze mich auf die Reling am Flussufer und genieße den Blick aufs Wasser und das tägliche Schauspiel der Farben am Abendhimmel.
Mein Handy vibriert, mein Herz hält inne, ich lese die Nachricht meines Liebsten, er schreibt „Bin schon heute geflogen, stehe am Steg.“ Meine Augen glänzen, ich springe voller Vorfreude auf und laufe eilig zum, nur wenige Meter entfernten Steg.
Einem innigen Kuss folgt eine lange Umarmung, ich schmiege mich an ihn, genieße seine Körperwärme, seine Nähe, seinen Duft.
Eng umschlungen stehen wir reglos da, nur unsere Körper vibrieren. Die Illusion der selbstverständlichen Existenz des jeweils anderen weicht der Gewissheit, wie zerbrechlich und unwahrscheinlich jeder gemeinsame Moment in diesem Leben ist.
© Helena/Aphroditee 02.06.2023
(Stark sein bedeutet, fühlen können.
Fernando Pessoa )