Tanz der Seelen
Wurzel, Hochzeit, Schlossgespenst, quirlig, schimmeln, blau, ranken, tanzbar
Henri streifte wie jede Nacht seit fast 500 Jahren über das Plateau oberhalb des Meeres. Früher in der guten alten Zeit um 1400 n. Chr. hatte an dieser Stelle oberhalb des quirligen Städtchens ein kleines, aber stolzes Chateau gestanden. Der salzige Atem der See war bis nach oben zu seinem Kerkerfenster im Turm gestiegen und wenn er sich nur genug anstrengte, den wenigen Spielraum seiner eisernen Fesseln unter Schmerzen bis zum äußersten ausreizte, konnte hatte er sogar ein kleines Stück vom unendlichen Blau erhaschen.
Wie viele Jahre seit seiner Inhaftierung schon vorbeigezogen waren, er wusste es nicht. Und irgendwann war das Gefängnis seines Körpers verfallen so wie der Rest der Anlage, von dem nur eine Mauer übriggeblieben war. Die Steine der Ruine wurden nach und nach unten in der wachsenden Stadt verbaut.
Nichts war von Henri geblieben, nur seine Seele, die seitdem ruhelos des Nachts als ehemaliges Schlossgespenst über den nun dort oben angelegten Friedhof wandelte. So mancher Seele hatte er beim Auffahren in den Himmel zugeschaut und sich gefragt, warum dies bei ihm nie geklappt hatte. Vermutlich war sein Sündenregister zu groß, auch wenn er sich nicht mehr an alles, was falsch gelaufen war, erinnern konnte. Andererseits gab es sicherlich schlimmerer Orte, an denen er hätte landen können. Dies war ein wundervoller Ort, ganz oben auf dem Berg mit Blick auf das Meer. Still und friedlich. Ab und zu kamen Angehörige vorbei und legten frische Blumen nieder. Manche weinten, doch irgendwann nicht mehr.
Nur wenn er genau hinhörte, drangen die Geräusche der Lebenden zu ihm nach oben. Diese waren im Laufe der Zeit immer lauter geworden. Auch die Kleidung der Besucher sowie der Toten in ihren Gräbern hatte sich verändert. Es waren wohl neue Zeiten angebrochen.
Die einst zarten Wurzeln des sich rankenden Efeus über dem Totenacker waren mächtig wie Männerarme geworden und überwucherten die marmornen Grabplatten. Auch die Mausoleen und Marmorengel ächzten unter der Last ihrer Umschlingung. Ein Ringen darum, wer die Oberhand behalten würde – das Leben oder der Stein. Immer wieder schön anzusehen, weil das Leben stets einen Weg fand. Im Grunde war er zufrieden, allein nur dies bedauerte er, dass es keine Farben in seiner Welt gab, alles immer nur schwarz im Mondlicht glänzte. Er versuchte sich an die Couleur der Blumen oder an das Bunt der Häuser zu erinnern. Und an das Meer natürlich, an dieses schillernde Farbenspiel aus Türkis, Petrol, Azur, Smaragdgrün und Dunkelbau, welches ihn sein Leben lang fasziniert hatte. Ach dieses Blau von einst noch einmal sehen zu können. Das war der einzige Wunsch, den er noch hatte.
In dieser hellen Mondnacht saß er auf einer der weißen Marmorbänke. Es gab ein frisches Grab gegenüber und er wartete darauf, dass sich die Seele erheben und diese Welt für immer verlassen würde. Ein erhebender Anblick jedes Mal, dessen er nicht überdrüssig wurde. Bald darauf ertastete eine durchsichtige Hand die Steinchen neben dem Grab, ein schmaler Fuß suchte Halt und dann stand sie da. Eine junge Frau in einem langen hellen Kleid, in dem sich das Mondlicht silbern spiegelte.
Verwirrt sah sie aus, so als begreife sie nicht, wo sie sich befand. Ihr hüftlanges Haar umgab sie wie ein Schleier, auf ihrem Kopf ein Kranz aus Rosenblüten. Sie sah so traurig aus. Es dauerte ihn und so schwebte er zu ihr und nahm am Ende der Grabplatte Platz. Er würde warten bis sie zu ihm sprach.
„Wo bin ich? Und warum ist es so dunkel hier? Eben doch noch habe ich auf meiner Hochzeit mit meinem Liebsten gelacht und wir freuten uns auf unser gemeinsames Leben. Was ist passiert? Wo ist mein Gemahl? Und wer bist du?“ Ihre liebliche Stimme brach.
Henri klopfte mit seiner Hand auf die Stelle neben sich und sie schwebte zu ihm. Die erste Seele seit ewigen Zeiten, die mit ihm sprach.
„Du bist gestorben und dein Körper liegt in diesem Grab, meine Liebe. So jung und schön wie du bist, ja engelsgleich, wirst du sicherlich schnell in den Himmel gerufen. Wirst sehen, gleich öffnen sich die Wolken und lassen dich ein in die ewige Herrlichkeit.“
Sie sah ihn an. Nichts geschah. Kein Himmel, der sich öffnete.
„Wird wohl nichts mit dem Himmel.“ Seufzte sie als sich der Horizont im Osten langsam rötlich verfärbte.
„Muss ich jetzt hier mit dir spuken bis ans Ende der Zeit? Dann sag mir doch deinen Namen, ich heiße Rose.“ Und sie reichte ihm ihre Hand.
„Henri.“ Flüsterte er bevor es Zeit wurde, sich vor dem Licht des anbrechenden Tages zu verbergen.
„Bis heute Nacht Rose“, wisperte er.
Er konnte es kaum erwarten bis das Schwarz der Nacht die gleißende Sonne ablöste und begab sich zu Rose ans Grab. Sie stand bereits auf ihrer Grabplatte und streichelte die unzähligen Rosen aus weißem Carrara-Marmor, die ihre letzte Ruhestätte schmückten.
„Wunderschön!“ Hauchte sie und Henri nickte. In der Tat war ihr Grab das schönste des ganzen Friedhofes. Ihr Gemahl hatte offensichtlich keine Kosten gescheut.
„Warum sind wir noch hier? Als Geister meine ich. Waren wir nicht gut genug zu Lebzeiten?“ fragte Rose.
„Ich weiß es nicht. Habe meine Sünden vergessen. Aber irgendwas wird schon gewesen sein.“ Murmelte Henri.
Beide schwiegen und starrten auf den schwarzen Spiegel des Meeres.
„Warm und trocken ist es hier.“ Bemerkte Rose nach einer Weile und lächelte ein wenig.
„Ja, meine Liebe. Schimmeln wird dein Körper hier oben nicht.“ Entgegnete Henri, ebenso lächelnd. „Er wird vertrocknen, so wie bei einer Mumie. Ist das ein Trost für dich?“
„Nicht wirklich Henri. Ich möchte leben und fühlen, möchte mich der körperlichen Liebe mit meinen Gemahl hingeben, ich möchte Feste besuchen, ich möchte die Sonne auf meiner Haut spüren, ich möchte das Blau und das Licht sehen und nicht hier im Dunklen sein. Auch, wenn mein Grab wirklich wunderschön ist.“ Sie seufzte wieder.
Henri wusste nichts, um sie zu trösten. Er nahm ihre Hand und hielt sie einfach nur. Nach einer Weile richtete sich Rose wieder auf. „Henri, sind diese Grabplatten betanzbar?“
„Du willst auf deinem Grab tanzen?“ Henri war verwirrt. So was hatte er nicht erwartet.
„Ja. Auch, wenn wir tot sind, muss das nicht heißen, dass wir nicht „leben“ können. Oder hast du eine bessere Alternative?
Vielleicht ist da oben im Himmel nur etwas schiefgelaufen und sie haben uns hier unten vergessen? Vielleicht bemerken sie uns dann, wenn wir etwas Ungewöhnliches machen und uns nicht einfach so in unser Schicksal fügen? Los komm.“ Rose war voller Energie und zog ihn hoch.
„Stell dir vor, wie würden einen Walzer tanzen, hörst du die Musik in deinem Kopf?“ Und begann sogleich sich mit geschlossenen Lidern zu unhörbaren Klängen zu wiegen.
„Was ist ein Walzer? Und wie geht das?“
Geduldig übten sie die Schritte während Rose die Melodie leise summte und in der nächsten Nacht schwebten sie glückselig über den Friedhof zum Donauwalzer. Es war herrlich und ihre Seelen strahlten vor lauter Glück. Sie bemerkten es nicht, aber einige wenige dunkle Krusten lösten sich von ihnen ab und zerfielen zu Staub.
Kurz vor der Morgenröte brachte Henri Rose zurück zu ihrem Grab und sie legte sich mit einem Lächeln nieder. Er nahm noch auf der Bank gegenüber Platz und ließ die schöne Nacht Revue passieren. Auch er lächelte. In diesem Moment erklang ein Rauschen und Wispern. Henri sah wie Rose über ihrem Grab schwebte, den Blick gen Himmel gerichtet, ihr Gesichtsausdruck verzückt. Sie wurde gerufen. Verlust durchzuckte ihn.
Rose sah zu Henri und er vermeinte ein silbernes Tränchen auf ihrer Wange zu sehen. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
„Komm doch mit.“ Hauchte sie.
Zu gerne hätte er, doch es fühlte sich falsch an. Sie wurde gerufen und nicht er. Er würde auf ein neues Glück warten, denn das dies möglich war, wusste er nun. Henri, voller neuer Hoffnung auf „leben“, winkte ihr zum Abschied und freute sich für sie.