Stunde Null
Ekatarina bebte am ganzen Körper. Sie wagte kaum zu atmen. Olbrzym, wie sie den zweieinhalb Kopf größeren Mann innerlich nannte, blickte auf sie herunter. Seine grauen Augen zogen sich zusammen. „Das dürre kleine Ding muss verschwinden, und zwar schnell“, schoss es ihm durch den Kopf. Für einen Moment stieg Panik in ihm auf. Aber davon durfte sie nichts mitbekommen.
Das tat sie auch nicht, denn sie hielt den Kopf demütig gesenkt. Ihre mageren Arme in dem gestreiften Kittel umklammerten das kleine Bündel Mensch, das vorgestern aus ihr herausgeflutscht war. Sie betete innerlich, dass sie nicht wieder anfing zu bluten. Der Riese würde sicherlich wütend, wenn sie den Fußboden ruinierte. Er wurde schnell wütend. Andere schrien laut, er wurde dann ganz still, griff zum Bambusrohr und schlug zu. Kurz, präzise und unbarmherzig. Sie hatte schnell gelernt, dass dieser Mann ein „Nein“ nicht akzeptierte.
Es fiel ihr immer noch schwer, diese fremde Sprache zu verstehen. Zuhause in Krakau hatten sie natürlich polnisch gesprochen, gelegentlich auch Französisch, wenn Besuch von Mutters Verwandtschaft kam. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, um wenigstens etwas von den Wörtern zu verstehen, die jetzt auf sie einprasselten.
„Du, Unterschrift, hier!“ Der Mann knallte ein Stück Papier vor ihre Nase. Sie sah sich scheu um, dann legte sie den Säugling behutsam auf den Boden. Gehorsam nahm sie den Federhalter und schrieb ihren Namen auf die Linie, die er ihr zeigte. Ekatarina Jelnikowa. Wie oft hatte sie ihn in den letzten zwei Jahren innerlich vor sich hingesprochen, um ihn nicht zu vergessen.
„Datum, Geburt!“ Der Zeigefinger wies auf eine andere Linie. Sie dachte nach, aber sie wusste nicht, wie der Monat auf Deutsch hieß. Also schrieb sie 27-5-1927 hin.
„Ort, Geburt!“ Der Zeigefinger wies auf eine andere Linie. Krakau. Das wusste sie seit die Deutschen überall die deutschen Schilder aufgestellt hatten. Der Säugling gluckste leise. Scheu legte sie den Federhalter und nahm den Jungen auf den Arm.
Der Riese setzte sich an seinen Schreibtisch und drehte das Papier herum. So also lautete ihr Name. So alt wie seine Tochter. Endlich ein zweiter Sohn. Nur von der falschen Frau. Er lachte bitter auf. Es war alles verloren. Er würde von Glück reden können, wenn er das jetzt überlebte. Von überall strömten mit den Flüchtlingen Horrormeldungen ins Dorf. Seine Autorität war im Schwinden. Die ersten verbrannten schon ihre Fahnen. Er hatte keine Wahl. Er musste zeigen, dass er kein schlechter Kerl war, dass er die Zustände schon länger untragbar fand – ein Opfer des Systems wie so viele. Er presste die Lippen zusammen und füllte das Formular aus. Geschlecht: männlich. Geboren: 27-3-1945 in Barstedt. Name: Heinrich. Vater: Heinrich Simon, Beruf: Bauer. Beurkundet durch: Heinrich Simon, Bürgermeister und Standesbeamter am 29-3-1945.
Er atmete kurz durch und griff zu einem zweiten Papier. „Passierschein für:“, er sah kurz auf die Geburtsurkunde, „Ekatarina Jelnikowa, geboren 27-5-27 in Krakau.“ Anschließend griff er zum amtlichen Personenstandsregister und trug die eben beurkundete Geburt sorgfältig ein. So wollte es nicht nur die deutsche Ordnung. Das war jetzt seine Lebensversicherung. Dürftig, aber besser als nichts.
Er griff in die Gemeindeasse und zog eine Handvoll Münzen heraus. „Ach, was soll der Geiz“, dachte er und nahm noch einige Scheine. Er zählte durch und ergänzte „28,35 RM Reisegeld“ auf dem Passierschein. Dann steckte er die beiden Dokumente mit dem Geld in einen Umschlag und drückte es der jungen Frau in die Hand.
„Geh nach Hause“, sagte er. Dann ließ er sie stehen und verließ das Rathaus. Er setzte sich auf sein Moped und inspizierte die Verteidigungslinie. Da kam Hagen angelaufen und wedelte mit einem Schreiben. Dass der Bengel auch so gar nicht nach ihm kam. Er nahm den Wisch und las „Befehl vom Oberkommando. Verteidigung bis zum letzten Mann“. Die Unterschrift war kaum leserlich. Er schickte seinen Sohn herum, um den Volkssturm zusammenzutrommeln. Widerwillig kamen die alten Männer und jungen Kerle angetrabt. „Die Panzersperren müssen weg“, blaffte er den zusammengewürfelten Haufen an. Das hier war der Zusammenbruch. Jeder musste jetzt sehen, wie er seine Haut rettete.
Ekatarina sah auf den Umschlag und dann auf das Kind. „Hein-rich“, flüsterte sie. Dann dachte sie nach. Zuhause, in Krakau auf dem Lyzeum hatten sie ihnen beigebracht, nicht impulsiv zu handeln. „Die Dinge reflektiert angehen“, das wurde ihnen fast täglich gepredigt. Sie konnte nicht zurück. Nicht mit einem unehelichen Kind von einem Nazi, der ihr Vater hätte sein können. Erneut sah sie auf das Kind – ihr Kind, ob sie wollte oder nicht. Sie warf einen Blick in den halbblinden Spiegel an der Wand. „Honor“, murmelte sie vor sich hin. Dann verließ sie das Rathaus und ging unbehelligt durch die Gruppen von Männern, die die Panzersperren wegräumten. Sie ging nach Westen. Die Richtung war eindeutig. Seit Wochen gingen alle nach Westen.
*
„Ma’am, entschuldigen Sie die Störung“, Harris räusperte sich diskret, aber Sir Arthur hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und reagiert seit Stunden nicht auf unser Klopfen…“
„Schon wieder“, Elisabeth wandte sich in ihrem Schreibtischstuhl um. „Ich brauche noch etwa zehn Minuten für die Chiffrierung des Telegramms. Das hat Vorrang. Louise soll es dann zum Postamt tragen. Danach kümmere ich mich um Arthur!“ Die im höfliche Ton vorgetragene aber eindeutige, klare Anweisung veranlasste Harris, sich mit einer stummen Verbeugung zurückzuziehen.
Elisabeth starrte einen imaginären Punkt an der Wand an, dann riss sie sich zusammen und setzte ihre Arbeit fort. Nach exakt zehn Minuten zog sie zweimal an dem Klingelzug, der neben dem schweren Biedermeiersekretär mit den Dutzenden Schubladen hing. Es dauerte keine Minute, dann trat eine Frau mittleren Alters ein. Sie trug Hut und Mantel, ein sicherer Hinweis, dass Harris sie bereits über den bevorstehenden Auftrag informiert hatte.
Elisabeth erhob sich. Obwohl Louise nicht gerade klein war, überragte her Ladyship sie noch einmal deutlich. Die Mittvierzigerin trug einen schlichten grauen Wollrock, eine blütenweiße Hemdbluse und eine grob gestrickte schwarze Weste mit aufgesetzten Taschen. Die dunklen Haare, von reichlich silbernen Strähnen durchzogen, hatte sie zu einem schlichten Knoten hochgesteckt. Nichts an ihrer äußeren Erscheinung ließ erahnen, dass die verwitwete Frau Professor Schmidt, geborene Donahue, die Schwester von Sir Reginald, 6th Earl of Loch Armand war. Nur ihre kerzengerade, aber keinesfalls steife Haltung und ihre Art sich auszudrücken zeigten, dass sie es von klein auf gewohnt war, Befehle zu erteilen. Sie streckte die Hand mit dem ausgefüllten Telegramm vor.
„Louise, das geht bitte zur Post. München. Eine Anfrage wegen Ihrer kranken Mutter. Bitte achten Sie darauf, dass es auch wirklich verschickt wird!“
„Keine Sorge, Ma’am“, entgegnete die Andere. „Heute Vormittag hat Adolf Hartmann Dienst. Der hat ein Auge auf mich geworfen.“ Sie lächelte abschätzig. „Bei dem muss ich nicht insistieren, der frisst mir aus der Hand.“ Sie nahm das Telegramm, nickte ihrer Vorgesetzten kurz zu, drehte sich um und verließ den Raum. So entging ihr das verhaltene Lächeln, mit dem Lady Elisabeth ihre ebenso freimütigen wie selbstbewussten Worte quittierte.
*
Erschöpft kletterte Ekatarina aus dem Eisenbahnwaggon. Es erschien ihr immer noch wie ein Wunder, dass sie nach tage- bzw. nächtelangen Fußmärschen einen Platz ergattert hatte. Um sie herum herrschte ein einziges Sprachgewirr. Als sie auf dem Bahnhof in Braunschweig französische Laute vernommen hatte, hatte sie beherzt „Catherine avec Henri“ geantwortet, als der Mann in der fremden Uniform sie angesprochen hatte. Seine Antwort war zwar nicht Französisch gewesen, aber weder er noch sonst jemand hatte in dem Durcheinander diese Aussage überprüft. Sie hatten ihr sogar ein altes, blaues Kleid und ein paar Schuhe gegeben. Beides war zu groß, aber allemal besser als der Kittel und die Holzpantinen.
Scheu sah sie sich an dem fremden Ort um und ließ sich mit der Menge aus dem Gebäude treiben. Zum Glück verschlief der Kleine weite Teile des Tages. Und zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie genug Milch für ihn. „Zur Stadt“, entzifferte sie auf einem Holzschild. Aber welche? Eigentlich war das egal. Hauptsache im Westen. Es führte vorerst kein Weg zurück nach Krakau.
Draußen standen Tische mit einem Plakat auf dem „Registrierung“ stand. Sie reihte sich in die Schlange ein und wartete geduldig. Schließlich erhielt sie einen Zettel, den sie wohl ausfüllen sollte. „Quartierschein,“ stand dort auf Deutsch, aber der Soldat redete in einer anderen Sprache.
„Nix verstehen. Je n‘est comprend pas“, sagte sie mechanisch. In dem Moment fing Heinrich an zu weinen. Hilfesuchend sah sie sich um, aber es gab keinen geschützten Platz, um ihn dort zu stillen. Errötend öffnete sie die oberen Knöpfe ihres Kleids. Sofort patschte die kleine Hand dorthin. Kurz darauf nuckelte er zufrieden.
Plötzlich stand neben dem Soldaten eine große, schlanke Frau. Sie war mindestens zwei Köpfe größer als sie selbst. Sie sprach ein paar Sätze. Und sie schien wichtig zu sein, denn der Soldat salutierte vor ihr.
„I take her, Sergeant“, sagte Elisabeth mit Nachdruck, umrundete den Tisch, nahm das dünne, kleine Ding in dem viel zu großen Kleid an die Hand und zog sie aus der Schlange.
„Du bist keine Französin“, konstatierte sie auf Deutsch mehr als sie fragte. Die großen, grau-grünen Augen blickend prüfend auf sie herunter.
Sie wagte nicht zu lügen. „Ekatarina Jelnikowa, Krakau“, antwortete sie zaghaft. Sie nahm den Säugling von der Brust. „Heinrich“, ergänzte sie leise.
Für einen Moment schien Elisabeth zu zweifeln. Ihr Blick ging vom Gesicht der jungen Frau zu dem des Kindes und wieder zurück. „Na, Du hast es nicht zurückgelassen. Spricht für Dich“, murmelte sie. Dann sagte sie „mitkommen!“
Den Ton kannte Ekatarina zur Genüge. Gehorsam ging sie neben der großen Dame her. Verstohlen schielte sie von rechts nach links. Am Bahnhof lagen Trümmer, aber je weiter sie gingen, desto schöner sah alles aus. Eine breite Allee führte schnurgerade in die Stadt. Es ging vorbei an prächtigen Häusern, teils aus Fachwerk, teils aus Stein. Überall liefen geschäftige Menschen hin und her. Wären nicht die Soldaten mit der „MP“-Armbinde gewesen, man hätte meinen können, es hätte nie einen Krieg gegeben.
Ekatarina überwand ihre Scheu. „Nix“, sie korrigierte sich „kein Bombe?“, fragte sie.
„Wenig“, antwortete die Andere. „Nur der Bahnhof und die Universitätsbibliothek…“ Dann realisierte sie, dass die junge Frau sie nicht verstand. „Wenig“, wiederholte sie und ging schweigend weiter. Nach einer Weile führte der Weg bergauf. Hier standen Villen hinter hohen Gitterzäunen inmitten von Gärten mit blühenden Blumen und mächtigen Bäumen.
Elisabeth öffnete eine Gartentür. „Komm!“, sagte sie ohne sich umzudrehen. „Wir sind da.“ Wie von Geisterhand öffnete sich die Haustür. Ein ältlicher Mann mit Halbglatze, gekleidet in einen schwarzen Anzug erschien. „Ich wusste nicht, dass wir Besuch bekommen, Ma‘am“, sagte er mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis.
„Einquartierung, Harris“, antwortete Elisabeth. „Wir haben alle unseren Teil beizutragen.“
Harris räusperte sich verhalten. „Na, dann komm mal mit, junge Dame“, sagte er und wies auf eine Tür. Als Elisabeth nickte, folgte sie dem Mann nach. Ehe sie sich versah, saß sie in der Küche, vor sich eine dampfende Tasse und ein Stück Brot.
„Kaffee“, sagte eine Frauenstimme. „Also, Muckefuck. Aber besser als nichts. – Ich bin übrigens Louise.“
Die nächsten Stunden waren seltsam. Kaum hatte sie ihr Brot aufgegessen und den Muckefuck ausgetrunken saß sie in einer Badewanne mit warmen Wasser und sah zu, wie Louise den kleinen Heinrich wusch und mit einer echten Windel wickelte. Dann kam die große Frau herein und legte Kleidung ab. „Von meiner verstorbenen Schwiegermutter“, sagte sie und ging wieder. Plötzlich gellte ein spitzer Schrei durch das Haus. Ekatarina zuckte zusammen, wagte aber nicht zu fragen, was da geschah. Das warme Wasser lullte sie ein, sie fiel in einen Dämmerzustand, unfähig noch einen klaren Gedanken zu fassen.
„Dich packen wir wohl besser ins Bett“, entschied Louise. Und so lag sie kurz darauf in einem gebügelten Nachthemd in einem frisch bezogenen Bett. Sie bekam gerade noch mit, dass Heinrich in eine Wiege gelegt wurde. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf.
*
Arthur kauerte in der Zimmerecke. Mit brennenden Augen las er wieder und immer wieder den knittrigen Brief in seinen Händen. Er versuchte zu verstehen, was er bedeutete. „May true love forever but…“ Schließlich begriff er, dass Reg beschlossen hatte zu heiraten. Er merkte nicht einmal, dass er einen spitzen Schrei ausstieß. Ihm blieb die Luft weg. er kippte zur Seite um und blieb liegen.
Der spitze Schrei schreckte Elisabeth vom Schreibtisch hoch. Sie ließ das kaum begonnene Memorandum über „die Reaktionen der lokalen Bevölkerung auf den Selbstmord des Führers“ liegen und lief auf den Flur, wo sie fast mit Harris zusammenstieß. Sie drückte die Klinke von Arthurs Tür herunter, Abgeschlossen. Sie sah zu Harris und nickte ihm zu. Er zog ein Bündel mit Drahtstiften hervor. Routiniert hantierte er am Schloss, und einige Sekunden später stand die Tür offen.
Gemeinsam schafften sie den schlaksigen, jungen Mann aufs Bett. „Riechsalz!“, befahl Elisabeth. Harris rannte los. Sie klatschte ihrem Sohn mit den Händen auf die Wangen und rief seinen Namen. Stiere Augen öffneten und schlossen sich wieder. Er wand sich hin und her. Seine geballten Fäuste öffneten sich, ein konvulsivisches Zucken ging durch den schmalen Körper. Ein Blatt Papier segelte auf den Boden. Elisabeth stecke es mechanisch in die Westentasche. Harris kam mit dem Riechsalz und wedelte damit unter Arthurs Nase hin und her. Erneut öffneten sich die Augen. Ein weiterer Anfall war vorbei. Elisabeth kehrte an ihre Arbeit zurück.
*
Nachdenklich betrachtete Louise den Umschlag in ihrer Hand. Sie dachte kurz nach, dann zuckte sie mit den Schultern. Nach einem kurzen Klopfen betrat sie das Arbeitszimmer. „Ma’am. Ich habe das hier bei der jungen Frau gefunden.“ Sie streckte die Hand mit dem Umschlag aus. Elisabeth nahm ihn und steckte ihn in die Westentasche.
„Wie geht es ihr?“
„Sie war sehr müde. Ich habe sie im ehemaligen Kinderzimmer von Sir Arthur ins Bett gebracht und das Baby in die Wiege gelegt.“
„Gut. In der Kommode dort müssten auch noch Babysachen von Sir Arthur liegen. Aber erstmal muss der Bericht losgeschickt werden.
„Auf dem üblichen Kanal oder über den neuen Standortkommandanten, Major Rudger Bancroft?“
Elisabeth horchte bei dem Namen auf, ließ sich aber nichts anmerken. „Auf dem üblichen Kanal natürlich. Ich würde eher sterben als einem x-beliebigen Offizier gegenüber zu erwähnen, dass ich für die Baker Street tätig bin. Die Firma hört nicht auf zu arbeiten, nur weil das Monster tot ist. Wegtreten!“
Louise verließ den Raum. Elisabeth nahm die Papiere aus ihrer Westentasche und vertiefte sich in die Lektüre.
*
Harris saß an dem wackligen kleinen Tisch und ölte behutsam und sorgfältig die vor ihm aufgereihten Metallteile ein. Der Krieg war vorbei. „Aber nur der auf dem Schlachtfeld“, murmelte er leise. „Unserer geht weiter.“ Seine Gedanken wanderten zu Sir Arthur. Seine Psychose brach immer häufiger und ohne erkennbare Gründe aus. Er bewunderte Lady Elisabeth dafür, dass sie es geschafft hatte, ihren Sohn vor dem Irrenhaus der Nazis und damit wohl auch vor dem Tod zu retten.
Er rief sich zur Ordnung und begann, den Enfield No. 2 Mark 1 wieder zusammenzusetzen. Sorgfältig überprüfte er, dass nichts hakte und die Trommel leichtgängig rotierte. Gerade als er die Munition einsetzen wollte, öffnete sich die Tür, und Elisabeth trat ein. Erschrocken sprang er auf. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie das Butlerzimmer jemals betreten hatte.
Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich daran an. „Harris, Ihre besonderen Fähigkeiten sind gefragt. Unsere neue Mitbewohnerin benötigt neue Papiere.“ Sie dachte kurz nach. „Ein britischer Standardpass wird reichen. Name: Catherine Simon, ledig, geboren am 27. Mai 1927 auf Islay. Visumstempel aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Keine deutschen.“
„Geht klar, Ma’am, aber – ich möchte anmerken, dass ein eigener Pass für eine Minderjährige eher ungewöhnlich ist.“
„Sie haben natürlich recht. Schreiben Sie 1923 und drehen Sie es so, dass sie vor spätestens zwölf Monaten das letzte Visum bekommen hat. – Wenn etwas ist, ich bin bei Arthur. Und wenn Louise wieder da ist, soll sie sich umgehend bei mir melden.
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum und suchte ihren Sohn. Arthur saß im Salon und blätterte in einem Roman. Er war noch etwas blass, hatte sich aber leidlich gefangen. Trotzdem war ihm mulmig bei dem Gedanken, dass seine Mutter den Brief gefunden hatte. Er erwartete eine geharnischte Strafpredigt.
Tatsächlich kam sie ohne Umschweife zur Sache. Kurz und knapp, als wäre er einer ihrer Mitarbeiter.
„175 endet nicht, nur weil die Nazis nicht mehr an der Macht sind. Reg scheint das verstanden zu haben. Und Du wirst umgehend dem Beispiel Deines Cousins folgen. Ich arrangiere das, und Du wirst gehorchen!“ Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um uns ergänzte, „you have to be straight – dear!“ Gegen „dear“ war jeder Widerstand zwecklos. Arthur sackte in sich zusammen. Als die Tür sich geschlossen hatte, brach er in Tränen aus.
Elisabeth ging hoch in ihr Schlafzimmer und durch die Seitentür in ihre Ankleide. Es war Zeit für das schokobraune Komplet.
*
Major Bancroft saß an seinem neuen Schreibtisch und verfluchte den Tag. Diese deutschen Bürokraten mit ihren pedantischen Nachfragen und penetranten Versuchen, die Sperrstunde aufzuheben, nervten ihn ebenso wie diese steifen Professoren, die in schlechtem Englisch darauf bestanden, Vorlesungen abzuhalten, denn schließlich war ihre Universität ja mal von George II: gegründet worden. Also waren sie alle miteinander quasi Briten. Eben hatte er den zehnten Besucher in Folge herauskomplimentiert. „Ein Königreich für eine Tasse Tee“, murmelte er.
Doch sein beflissener Adjutant gönnte ihm keine Pause. Vorschriftsmäßig salutierte und meldete er, „draußen steht eine Lady für Sie, Sir!“
Bevor Bancroft etwas sagen konnte, betrat die Dame sein Büro, schob Davis beiseite und ging mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Sie war eine imponierende Gestalt: groß und schlank, kerzengerade Haltung. Sie trug ein schokobraunes Mantelkleid, tadellose Nylonstrümpfe mit eleganten Pumps, einen farblich passenden Hut nebst Handschuhen und Tasche. Kurzum, vom Scheitel bis zur Sohle eine englische Lady.
„Rudger, my dear. Wie schön dich zu sehen“. Ein paar flüchtige Küsse zerplatzten kurz vor seinen Wangen.
„Tante Lizzy?!“ Bancroft war mehr als perplex. Davis verließ diskret den Raum und verschloss die Tür.
Elisabeth setzte sich ohne Umstände auf den nächstbesten Stuhl und erläuterte ihr Anliegen. „My dear. Ich weiß, Du hast hier schrecklich viel zu tun. Also mache ich es kurz, Der gute Arthur wurde von Amors Pfeil getroffen und hat der Natur seinen Lauf gelassen. Du wirst verstehen, dass wir unmöglich von den Nazis eine Trauung durchführen lassen konnten. Und nun war der neue Erdenbürger schneller als die Royal Army. Du kannst das doch sicher diskret mit einer Ziviltrauung in Ordnung bringen? Und dann brauchen wir natürlich noch eine Geburtsurkunde für den kleinen Henry. Meinst Du, Du kannst das Datum etwas, sagen wir optimieren, damit wir ohne den ganzen Adoptionskram klarkommen?“
Bancroft schwirrte der Kopf. „Ja, aber…“ versuchte er zu insistieren.
Elisabeth setzte ein warmherziges Lächeln auf. „Ich muss Dich doch nicht an Balmoral, Anno 38 erinnern, my dear?“
Bancroft wurde leichenblass. „Natürlich nicht“, stotterte er.
„Fein, dann ist das also abgemacht. Sagen wir, morgen früh um 11 Uhr? Hier ist meine Karte. Die gute Catherine ist noch zu schwach, um durch die Stadt zu laufen.“
Bancroft nickte mechanisch. Elisabeth lächelte befriedigt. „Dann will ich Dich auch gar nicht länger stören“. Sprachs und rauschte hinaus.
Der Major starrte hinter ihr her. Die Lust auf Tee war ihm vergangen. Er brauchte dringend eine Brandy.
*
Ekatarina saß aufrecht im Bett und versuchte zu verstehen, was die beiden Frauen von ihr wollten. Die große Dame, die sie am Bahnhof aus der Schlange geholt hatte, sprach in der fremden Sprache, von der sie inzwischen wusste, dass sie „Englisch“ hieß. Louise sagte dann etwas zu ihr auf Polnisch, zwar mit starkem Akzent, aber verständlich. Es tat gut, die eigene Sprache zu hören und sprechen zu dürfen. Die Menschen in diesem Haus schienen es gut mit ihr zu meinen. Vermutlich hatte sie aber auch gar keine Wahl. Also nickte sie zu allem. Nachdem die große Dame gegangen war, half Louise ihr beim Anziehen. Gemeinsam übten sie einen Satz in der englischen Sprache. Dann musste sie sich hinsetzten und einen Namen mehrfach abschreiben. Dann kam der Mann mit dem schwarzen Anzug herein und legte ihr ein kleines, abgegriffenes Büchlein vor. Louise zeigte auf eine Linie. Gefügig schrieb sie „Catherine Simon“.
„Der Major kommt um Elf“, sagte Harris zu Louise. „Sieh zu, dass sie bis dahin ihren Satz kann und ihren zukünftigen Namen richtig schreibt. Und schärf ihr ein, ansonsten keinen Pieps zu sagen, sonst fliegt die Sache auf.“ Er ging nach unten und richtete das Esszimmer her.
Pünktlich um 11 Uhr führte Louise Ekatarina in das Esszimmer. Hinter dem Tisch saß ein Mann mit Uniform, davor ein anderer, viel jünger Mann mit einem hellbraunen Lockenkopf. Louise schob sie auf den freien Stuhl neben dem jungen Mann und setzte sich selbst an ihre andere Seite.
Ekatarina verstand nicht, was gesprochen wurde. Der Uniformierte schrieb etwas auf und schien Fragen zu stellen. Die große Dame antwortete ihm, und er schrieb erneut. Schließlich sah er Ekatarina direkt an und fragte sie etwas. Louise stupste sie an. Gehorsam sagte sie, „yes, I will“.
Dann steckte der junge Mann ihr einen Ring an ihren Finger und sagte ebenfalls, „yes, I will“. Zum ersten Mal sah sie sein Gesicht. Er sah gequält aus.
Wieder gab es ein Papier mit einer Linie. Und wieder stupste Louise sie an. Also schrieb sie „Catherine Donahue“ dort hin. Dann wurde ein zweites Papier hingelegt. Sie schrieb „Henry“ in die Zeile, die man ihr zeigte.
„Honor“, murmelte sie leise vor sich hin. Krakau war endgültig Geschichte.
© Sylvie2day 11. 8. 2023