High Heels
Nils hätte nie damit gerechnet, dass an diesem Abend ein erotischer Traum wahr werden könnte. Dabei fühlte er sich zu Beginn dieser Faschingsveranstaltung wie ein Stück verlorenes Treibeis, verloren und unterkühlt im heißen Rocken und Zocken der musikbegeisterten Fans irgendeiner Partyband. An der extralangen Theke, die nur für diesen Abend in die Sporthalle der Kleinstadt gebaut wurde, bestellte er sich Rotwein – natürlich trocken. Er hätte ihn auch furztrocken nennen können, wie er beim ersten Schluck bemerkte. Sicher ein fränkischer Rotwein.
Er stand gerne am Rand des wilden Treibens und schaute sich die Menschen an. Manche Kostüme kratzten scharf an den Grenzen des guten Geschmacks, manche waren auch weit darüber. Andere kokettierten mit Rollen und Klischees in einer durchaus sexy Form. Da war eine Pippi Langstrumpf mit der bezaubernden Zahnlücke, deren Beine zwar etwas zu dick unter dem kurzen Rock zum Vorschein kamen, aber in den bunten Socken und den Strapsen an den Schenkeln durchaus verlockend wirkten. Wie gerne würde er zwischen solchen Beinen liegen … Und da, eine Hexe: Wildes rotes Haar, egal ob echt oder nicht, wallte über ein hautenges Kostüm in schwarz und grün, der Plastikrabe auf ihrer Schulter schaute regungslos in ihr beeindruckendes Dekolletee. In einiger Entfernung tanzte ein Engel mit Rauschgoldfließendhaar. Immer, wenn ein Gegenlicht von der Bühne aufblitzte, wurde für Nils sichtbar, dass dieses weibliche Bengel-Engelchen nicht viel Unterwäsche unter ihrem Kostüm trug.
Nils taute allmählich auf. Mit seinem schlichten, kackbraunen Mönchskostüm war er nicht der Held des Abends, fiel aber auch nicht unangenehm als Kostümverweigerer auf. Er unterhielt sich in gepflegtem Smalltalk mit anderen Herren an der Theke. Die Themen wurden dabei zunehmend skurriler, die Lacher lauter, die Getränkebestellfrequenz immer kürzer.
Irgendwann knurrte einer der Herren: „Heiße Torte!“. Nils Augen folgten dem Blick des Nebenmannes und blieben an dem Objekt der Begierde hängen:
Eine junge Frau tanzte in der Menge, unweit von der Theke. Sie trug ein schwarzes Netzhemd, darunter nur einen knappen, roten BH. Sie war klein, nicht größer als geschätzte 160 Zentimeter, aber ihr langes, blondes Haar wippte lockig herausfordernd bis runter auf die kleinen, runden Pobacken, die von einem sündhaft kurzen, weißen Lederrock notdürftig verdeckt wurden. Ihre Bewegungen waren die Verkörperung der reinsten Lebenslust. Sie wirkte sinnlich, aber nicht vordergründig sexy. Der Anblick verführte, aber Verführung schien nicht ihre Absicht zu sein. Sie hatte Lust – Lust an sich selbst. An diesem Moment. An diesem Rausch. Am Rhythmus der Musik. An den Beats. Am wummernden Bass. Lust an der Freude – der eigenen, und der Freunde der Menschen um sie herum. Nils konnte nicht anders, er musste tanzen. Er drehte sich von der Theke weg und ließ sich hineinziehen ins Meer der zuckenden Leiber. Wie lange schon hatte er das nicht mehr getan? Einfach tanzen, einfach sich treiben lassen, Bewegungen ohne Gedanke daran, wie die Bewegungen aussehen mögen?
Irgendwann tanzte er ganz nahe neben ihr. Er fragte sich, wie sie es schaffte, auf diesen irre hohen und sehr dünnen Absätzen, so sicher zu tanzen? Ihre Beine steckten in langen, weißen Lacklederstiefeln. Zwischen Knie und Lederrock glänzten die nackten, schlanken Schenkel. Er lächelte ihr zu. Sie grinste kurz zurück, schloss tanzend die Augen, wiegte sich geschmeidig zum Takt der Musik. Doch plötzlich tat sie scheinbar einen falschen Schritt, geriet ins Wanken, schien zu fallen. Nils breitete die Arme aus, sie hielt sich, als sie nach vorne kippte, am mächtigen Holzkreuz fest, welches er sich zur Vervollständigung des Kostüms, an einem verknoteten Wurstbendel um den Hals gehängt hatte. Seine Arme schlossen sich auf ihrem Rücken, kurz über dem nassgeschwitzten Wirbelknochen oberhalb ihres Popos.
„Holla“, jauchzte sie ihm entgegen, „ein Mann der Kirche rettet eine arme Sünderin!“
„Ich gewähre dir denn Ablass, der dir gebührt“, schrie er ihr gegen den Lärm ins Ohr. Er spürte keinerlei Widerstand in ihren Bewegungen, eher das Gegenteil. Sie schien sich an ihn schmiegen zu wollen.
An ihn? Nils wurde bewusst, dieses Mädchen könnte seine Tochter sein. Er war mit Mitte vierzig kein Mann, der sich verstecken musste. Nils hielt sich fit mit Sport und guter Ernährung. Alkohol genoss er nur zu Anlässen wie diesen. Er rauchte seit 12 Jahren nicht mehr. Trotzdem war ihm bewusst: Er sah aus wie ein Mann oberhalb der 40. Da machte er sich nichts vor. Die Haare wurden lichter, die Falten tiefer, die Augen trüber. Seit der Trennung von Isolde vor acht Jahren hatte er kein Glück mehr bei den Frauen. Wenn er dann doch mal eine dazu brachte, mit ihm ins Bett zu gehen, wollte oft seine Männlichkeit nicht mitspielen. Warum auch immer. Er hatte damit aufgehört, sich darüber Gedanken zu machen. Er hatte halt einen Wurm nur, und nicht den Tiger von Eschnapur. Dieses Mädchen war maximal Mitte Zwanzig, er wurde bereits ranzig. Doch in diesem Moment wurde er nur eins – geil.
Es kam, wie es kommen musste. Sie nannte sich Damira. Er spendierte ihr Getränke an der Theke, sie wurde zum Mittelpunkt der Runde, hielt sich aber stets an ihm fest – mit den Augen, den Gesten, gelegentlich den Händen. Ihre Berührungen elektrisierten ihn. Von Minute zu Minute wurde er jünger. Zuletzt fühlte er sich lebendig wie ein Zwanzigjähriger, der mit seinem neuen Porsche zur Dorfdisco fuhr.
Nun gut, einen Porsche hatte er nicht, aber er begleitete sie ritterlich unter dem leuchtenden Himmel einer sternenklaren Vollmondnacht nach Hause.
Zu sich nach Hause.
Es waren nicht die Briefmarkensammlung und der nächtliche Kaffee, die seine Wohnung zum Ziel machten. Nils lockte mit einem guten Essen. Wozu es aber gar nicht kam. Sie landeten ziemlich schnell, ohne lange Umwege, in Nils' Bett. Hier geschah das Wunder: Sein Kaninchen verharrte plötzlich nicht mehr vor der Schlange, sondern wurde zur Anakonda. Er nahm ihr junges Fleisch wahr und seine alte Nase hatte schnell den Spießbraten gerochen. Die Lokomotive verschwand im Tunnel, während Apollo-die-weiß-nicht-wievielte-Rakete zur dunklen Seite des Monds startete. Barbarella verschwand im Tau Ceti-Sonnensystem, wo sie Durand Durand wiederfand. Nils wanderte hinab in die fluiden Täler der selbstvergessenen Dunkelheit, während Damira den Baum der Erkenntnis von seiner verkrusteten Borke befreite. Der Stamm wurde zum Treibholz in der schäumenden Gischt, die am steilen Felsen der Hingabe brandete. Bald stürzte der orientierungslose Astronaut in die Wüste Nevadas, wo sich Cowboy und Indianerin im wilden Ritt verfolgten. In diesem Fall hier war die Indianerin eine Meisterin der Reitkunst, ihre Schenkel steuerten kraftvoll das Geschehen in Nils' Bett ...
… dumm nur, dass die Indianerin sich zum Reiten nicht ihrer mit spitzen, stahlharten Stilettos bestückten Lacklederstiefel entledigt hatte. Sie rammte die waffenscheinfähigen Schuhe mit ganzer Kraft in die Matratze unter Nils. Diesem wurde irgendwann gewahr, dass der wilde Ritt auf seinem Wasserbett stattfand. Ein Erbstück. Weit über 18 Jahre alt und damit schon lange nicht mehr in der Gewährleistungspflicht des Herstellers. Kein Gedanke, der dem erotischen Treiben förderlich war. Ebenso wie das gerade eintretende Gefühl, nackt in einem Gemisch aus Wasser-Anti-Algen-Conditioner zu liegen. Der Hengst schreckte hoch und warf die Reiterin ab, die mit einem platschenden Geräusch auf dem bereits wasserdurchtränkten Teppich landete. Empört raffte sie ihre wenigen, im Zimmer verteilten Klamotten zusammen und verschwand ohne ein Wort.
Bei Nils brach Panik aus. Sein Puls legte noch eine Schippe drauf und raste wie ein D-Zug. Eigentlich sollte die Sicherheitswanne des Bettes die Flüssigkeit auffangen. Scheinbar war aber bei dem alten Modell mittlerweile auch diese undicht. Noch bevor er ausreichend darüber nachdenken konnte, welche Folgen das Wasser haben könnte, da er im dritten Stock eines Altbaus wohnte, klingelte es an der Tür. Es klopfte jemand. Nein, es war eher ein Hämmern. Nils öffnete verängstigt, notdürftig eingewickelt in die nasse Bettdecke:
„Nass! Alles nass!“, keuchte der Nachbar aus dem zweiten Stock, kein besonders freundlicher Typ, mit Wampe im Feinripp und Glatzkopf zwischen den abstehenden Ohren. Noch bevor er auf Nils losgehen konnte, schrie eine weibliche, hysterische Stimme von unten:
„Robert, Hilfe, es funkt ...“
Der Nachbar drehte sich genervt um und rannte die Treppe wieder nach unten. Nils stieg der Geruch von verschmorten Kabeln in die Nase. Wie in Trance suchte er nach seinem Handy, fand es schließlich in seinem Mantel, der glücklicherweise trocken an der Garderobe hing und wählte geistesabwesend die 112. Er zog sich einen Jogginganzug über, griff sich den Mantel und ging nach unten, solange es noch möglich war, um an der Straße die Feuerwehr zu begrüßen.
Der Traum war zum Alptraum geworden.
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Treibeis
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Rand
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Widerstand
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Torte